Preview Senor Ruì – Die Nachtigall

coverpreview

Juli 2014

Ruì erwacht von einem stechenden Schmerz im Oberarm. Nicht einmal an diesem Morgen lässt die zehn Zentimeter lange Narbe ihn in Frieden ruhen. Er verzieht das Gesicht, noch bevor er die Augen öffnet. Dann berührt er seinen Oberarm, seine Haut ist wund und die Verletzung pulsiert rhythmisch. Eine Träne lockert sich aus seinem linken Augenwinkel und läuft ihm über die Wange, bis sie mit einem zarten, klopfenden Geräusch auf die harte Liegefläche tropft. Ein früher Sonnenstrahl fällt durch das winzige Fenster und wärmt seine Stirn, wie es einst Eva tat, wenn er die Schmerzen nicht mehr ertrug. Er hatte Glück mit diesem Zimmer, immerhin musste er in den letzten Jahren nicht ständig nach der Uhrzeit sehen, um zwischen Tag und Nacht unterscheiden zu können. Ruì hebt die Hand, um sich die Träne von der Wange zu wischen. Niemand soll ihn weinen sehen. Nicht an diesem letzten, so besonderen Tag.

Er glaubt, das Läuten der Kirchenglocken zu hören, dabei ist es in diesem Raum unmöglich. Noch einmal eine Kirchenglocke zu hören, es wäre nur allzu schön. Er lauscht dem Ticken der Uhr an der Wand, folgt der Bewegung des Sekundenzeigers. Fünf Uhr und drei Minuten. Noch eineinhalb Stunden, dann wird man ihn wecken. Zeit genug, noch einmal die Augen zu schließen und sich den Gedanken hinzugeben. Ruì dreht sich auf die Seite, der Druck lindert die Narbenschmerzen. Nach so vielen Jahren hat er Freundschaft mit diesen Schmerzen geschlossen. Er kann mit ihnen umgehen, selbst in den letzten Jahren, als sie immer stärker und häufiger auftraten, hat er sie nie verflucht. Vielleicht auch, weil so viele Erinnerungen in ihr stecken, auf die er nicht verzichten will. Spürt er das Stechen, spürt er seine Familie.

Seine Augen kämpfen gegen das frühe Sonnenlicht. Obwohl die Liege viel zu hart ist, nimmt er das Kissen und schützt seine geschlossenen Augen vor dem hellen Licht. Augenblicklich wird es kühl und dunkel. Er entspannt sich innerhalb weniger Sekunden. Zunächst fällt es ihm schwer, sich die Gesichter seiner Lieben in Erinnerung zu rufen, sind doch schon gut zehn Jahre seit jenen schlimmen Monaten vergangen.

Ein wirrer Traum holt ihn ein. Wie oft hat er ihn schon geträumt in den letzten Jahren, seit diese wenigen, kalten Quadratmeter zu seinem Zuhause wurden?

Er sieht sich selbst als jungen Mann, der Mann, der er damals war. Er ist nackt wie Adam im Paradiese, ungeschützt. Er schämt sich seiner Nacktheit nicht. Er geht glücklich durch sein Haus, in dem er mit seiner Frau Eva wohnte. Sie erwartete ein Kind. Im Oktober sollte es auf die Welt kommen. Er sucht sie, lacht über ihr Versteckspiel. Er ruft sie, Eva, Eva, wo bist du? Wo hast du dich versteckt? Nun komm schon, zeig dich! Doch Eva reagiert nicht, sie antwortet nicht, kein Wort, kein Laut. Er geht durch alle Zimmer, rennt in den Keller, in den Dachboden, in die Küche, sieht zum Fenster heraus, das über die Terrasse in den blühenden Garten führt. Nichts, er kann sie nicht finden. Er beginnt, sich zu sorgen, sein Atem geht schneller, schließlich rast sein Puls. Der Traum wird immer hektischer, er stürzt zum Schlafzimmer, betritt es, einen Moment lang sieht er seine eigenen, vor Entsetzen aufgerissenen Augen. Das Zimmer hat eine rote Farbe angenommen: die elfenbeinfarbenen Wände, der hölzerne Boden, die hellen Möbel, das Bett, alles ist in dunkelrote Farbe getaucht. Selbst die Fenster sind rot. Es ist die Farbe Evas, die Farbe ihrer Leidenschaft, ihres Herzens, ihres Blutes. Eva liegt auf dem Bett, ihr Leib wurde aufgeschnitten, das Blut fließt in langsamen Strömen über ihren Körper. Sie liegt lächelnd auf dem Bett und betet. Ihr Blick durchdringt ihn. Er kann nicht aufhören zu schreien. Sie lächelt weiter, beendet ihr Gebet, dann nimmt sie ein Messer auf, das neben ihr auf dem dunkelroten Bett liegt. Sie sieht es an und hält es ihm hin. Er spricht auf sie ein, geht langsam auf sie zu, um ihr zu helfen, um die furchtbaren Blutungen zu stillen. Als er an ihrem Bett steht, erkennt er sich selbst auf der gegenüberliegenden Seite. Er sieht sich wie in einem absurden Spiegel. Der Mann, der ihm gegenüber steht, ist angezogen, nicht nackt und schutzlos wie er selbst. Er lacht hämisch, zeigt mit seinem Finger auf ihn und seine verblutende Frau. Er lacht und lacht und lacht, er kann sich nicht beruhigen. Ruì schreit ihn an, voller Wut, befiehlt ihm, aufzuhören. Je mehr er schreit, je wütender er wird, desto lauter wird das Lachen seines Gegenübers. Das Lachen wird durchs Evas Stimme übertönt. Irritiert blickt er seine Frau an. Sie hat erneut begonnen zu beten. Ihre Stimme wird immer lauter, sie fällt in Trance, lächelt durch ihn hindurch.