Ringel und Socke – Ein Damenstrumpfmärchen

Der Abend vor der Reise (Teil I)

Die Schublade schloss sich, Dunkelheit. Ringel war enttäuscht und klammerte sich noch ein wenig fester an Socke. Sie konnte kaum glauben, dass sie dieses Mal nicht zu den Auserwählten gehörten. Jedes Mal waren sie mitgekommen, wenn es in Urlaub ging. Bei jeder Fahrt waren sie dabei gewesen, ob nun ins Piemont oder nach Deutschland, ans ligurische Meer oder nach Frankreich. Nie waren sie zu Hause geblieben. Und nun so etwas. Sie hatte sie einfach vergessen. Zugegeben, Ringel und Socke waren alt und ein wenig ausgeleiert, aber sie hatten keine Löcher und waren aus guter Baumwolle, made in Germany, zwei Euro neunundvierzig im Dreierpack bei NKD, man konnte sie ohne Probleme bei vierzig Grad waschen und sie trockneten innerhalb weniger Stunden, wenn man sie nur aufhängte. Und vor allem: Ringel und Socke hatten keine lästigen Nähte, die an den Zehen kniffen und nach wenigen Schritten für Blasen sorgten. Und sie waren so herrlich bunt. Streifen in allen Farben, von gelb über rot und blau und grün, sogar ein wenig rosa fand man in ihrem Stoff. Sie waren ihr immer treu gewesen, hatten ihre Füße gewärmt, ob nun bei der Arbeit, beim Spaziergang oder abends auf dem Sofa beim Fernsehkrimi. Sie waren ihre Begleiter, sie hatte sie stets gut behandelt. Doch nun schien ihr Leben als Lieblingsstrümpfe sich endgültig dem Ende zu nähern. Es war aus, ein für alle Mal. Ringel konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten und schluchzte laut auf.

„Sie nimmt uns nicht mit, Socke. Du wirst sehen, demnächst schmeißt sie uns in den Mülleimer. Wenn wir Glück haben, landen wir bei der Caritas.“

Socke versuchte, Ringel zu trösten, doch etwas Besseres als „Vielleicht wird sie uns noch als Putzlappen verwenden“, fiel ihr auch nicht ein. Sie war selbst über alle Maßen enttäuscht und wusste nicht, wie sie diesen schweren Schlag verdauen sollte.

„Nein, Socke. Dafür haben wir einen zu hohen Anteil an Polyester. Wir saugen doch nichts auf. Nur Fußschweiß“, rief Ringel und schlang sich mit aller Kraft um Socke. Nun wurde auch Socke bewusst, dass sie längst zu den alten, ausrangierten Teilen des Kleiderschrankes gehörten. Die Reise im vergangenen August war wohl die letzte gewesen. Und selbst damals hatten sie nur einmal das Licht gesehen, als es einen ganzen Tag lang geregnet hatte. Sie hatte sie angezogen, als sie das kalte Gebirgswetter nicht mehr ertragen hatte und sie selbst im Bett an den Füßen gefroren hatte. Das waren noch Zeiten gewesen, als Ringel und Socke ihre Retter in der Not waren!

Die Stunden vergingen, Ringels Tränen waren versiegt, doch ihre Traurigkeit war geblieben. Sie hatte mit ihrem Wehklagen die Wollstrümpfe geweckt, die sich an sie gekuschelt hatten, um sie zu wärmen. Die Damenstrümpfe waren kichernd in die andere Seite der Schublade gekrochen und hatten hinter vorgehaltenen Netzen gelästert. Ringel war es egal gewesen, vielleicht hatte sie es auch gar nicht mitbekommen. Socke hätte den Damenstrümpfen vor Wut am liebsten ein paar Laufmaschen verpasst, doch dann besann sie sich eines besseren und hielt Ringel im Arm, bis sie sich beruhigt hatte.

Es musste gegen elf Uhr abends gewesen sein, als die Schublade noch einmal geöffnet wurde und eine Hand hineingriff. Ringel erwachte und starrte ins diffuse Licht des Schlafzimmers. Als die Hand nach ihnen griff, konnte sie ihr Glück kaum fassen. Sie hatte sie doch nicht vergessen! Die Hand umschloss sie, nahm sie aus der Schublade und legte sie auf dem Spiegelkasten ab. Ringel sah sich vorsichtig um, ein paar Dinge lagen hier, ein Körbchen mit Schminke und ein Becher mit ein paar Pinseln, die grüne Unterwäsche aus dem Stock unter ihnen, ein Wollpulli und eine zusammengelegte, schwarze Hose. Ringel zupfte aufgeregt an Sockes Ferse, doch sie schlief tief und fest.

„Socke, Socke, wach auf!“

„Mmm… wir haben Urlaub… schlaf weiter.“

„Sockeeeeee…. Sie nimmt uns mit!“

„Ach was, du träumst. Schlaf jetzt. Gewöhn dich dran, du bist zu alt für solche Sachen.“

„Nein, Socke, sieh nur, wir liegen bei den Sachen, die sie morgen tragen wird. Wir fahren mit! Morgen geht es los! Oh Socke, ich kann es kaum glauben… das wird eine Reise… und wir sind live dabei!“

„Meinst du?“ fragte Socke gähnend und dehnte ein wenig ihr Bündchen.

„Ja, schau doch mal… da drüben sind ihre Schlabberhosen… die trägt sie immer, wenn sie mehrere Stunden im Auto fahren. Oh Socke, ich bin so glücklich…“

Und auch Socke war glücklich. Zwar ließ sie ihren Gefühlen nicht so viel freien Lauf wie Ringel, aber die Enttäuschung und die Traurigkeit der letzten Stunden konnte sie nicht leugnen. Nun würde alles gut werden. Sie würden noch einmal gemeinsam verreisen.

„Wo es wohl hingeht?“, fragte Ringel leise, als die Menschen schliefen.

„Hee, es ist Weihnachten. Dreimal darfst du raten“, brummte der Wollpullover.

„Zu den Eltern?“

„Ja, erst zu seinen, dann zu ihren. Wie jedes Jahr.“

„Sie wird wieder so viel essen, dass sie nicht mehr in mich hineinpasst“, jammerte die schwarze Schlabberhose.

„Ach was redest du denn, du hast ihr noch immer gepasst“, erwiderte die Unterhose, „Deshalb zieht sie dich ja immer an. Frag mich mal. Ich bin ihr eh schon ein wenig zu eng. Das ist mein Ende…“

Ringel konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. Diese Unterhose übertrieb es jedes Mal. Kein Wunder, ein Spitzenhöschen war natürlich sehr theatralisch, das lag in seiner Natur.

„Nur gut, dass wir Socken immer passen“, sagte sie beseelt, „und dass sie ein Herz für Socken hat. Sie hat immer nur seine weggeschmissen, ihre eigenen nie!“

„Jetzt seid doch mal still und schlaft“, befahl Socke, „Morgen wird ein langer Tag. Und ich will nicht am Ende noch vor lauter Müdigkeit ein Loch in der Ferse bekommen.“

Ringel flüsterte Socke ein zärtliches „Gute Nacht“ zu und schmiegte sich an sie. Dann träumte sie von einem langen Ausflug an Sockes Seite.

Waschtag (Teil II)

Es war eine anstrengende, lange Fahrt gewesen. Ringel, Socke und die Unterwäsche waren so müde, dass sie sich nach der Reise erst einmal ein paar Tage im Dreckwäschesack ausruhen mussten. Sie spürten ihr Alter nun doch ein wenig und waren froh, dass die Menschin sie noch am selben Abend in eine Plastiktüte steckte und diese unter dem kleinen Schreibtisch abstellte, wo es warm und dunkel war. Ringel und Socke hielten sich nun nicht mehr aneinander fest, sie lagen lose und entspannt aufeinander. Ein Zipfel des Spitzenhöschens hatte sich auf Sockes Ferse gelegt und war dort einfach eingeschlafen. Ringel äugte ab und an ein wenig misstrauisch zu den beiden herüber, doch dann sah sie ein, dass es eigentlich keinen Grund zur Eifersucht gab und schlief einfach weiter. Langsam aber sicher kamen immer mehr Kleidungsstücke dazu und es wurde allmählich ein wenig eng in der Plastiktüte. Es störte aber niemanden, jedenfalls nicht bis zu dem Zeitpunkt, als ein paar große, stinkende Tennissocken in Größe 43/44 dazustießen.

„Oh nein“, motzte der BH, „Geht in eine andere Ecke. Fasst mich bloß nicht an. Oder noch besser, sucht euch einen anderen Wäschesack.“

„Ist doch nicht unsere Schuld, dass wir so stinken“, jammerte die linke Tennissocke, „Wenn der Alte uns nicht ab und zu freigibt, können wir doch nichts dafür.“

„Hey, hört auf zu streiten“, rief das Unterhemd, das ganz oben auf dem Stapel Dreckwäsche lag, „Ich glaub, jemand hat von der Waschmaschine gesprochen!“

Ringel konnte es kaum glauben, als sie das Wort Waschmaschine hörte und zupfte aufgeregt an Sockes Ferse, wobei sie die schlafende Unterhose unsanft weckte.

„Socke, Socke, wir werden gewaschen! Ein warmes Schleuderbad! Vierzig Grad und Perwoll! Und Weichspüler von Lenor!“

Ringel, Socke und all die anderen hatten nicht einmal Zeit, sich richtig auf die willkommene Abwechslung zu freuen, als es auch schon los ging: der Wäschesack wurde aus der Ecke geholt, auf das Bett gestülpt und sie wurden in weiße, bunte und dunkle Dreckwäsche sortiert. Ringel wurde auf den Haufen mit den bunten Sachen und in die Wäschetrommel geworfen. Sie hatte es sich gerade auf einem blauen, verwaschenen T-Shirt bequem gemacht, als sie merkte, dass Socke nicht in ihrer Nähe war.

„Socke? Wo bist du?“

Niemand antwortete.

„Shirt, hast du Socke gesehen?“

Das T-Shirt zuckte mit den Schulternähten. „Nein, aber mach dir keine dünnen Fäden. Sie ist sicher in der dunklen Wäsche gelandet. Die Menschin nimmt es nicht so genau, aber verloren gegangen ist bis jetzt ja noch niemand.“

Das stimmte zwar, trotzdem hatte Ringel kein gutes Gefühl bei der Sache. Schließlich waren sie ja nicht zu Hause, wo man sich sicher sein konnte, dass niemand vergessen würde. Doch bevor sie genauer über ihr und Sockes Schicksal nachdenken konnte, bekam sie auch schon einen Platsch vierzig Grad warmen Wassers ab und wurde ordentlich eingeseift. Sie verschluckte sich und lachte. Dann drehte sie sich eine Stunde lang mit den anderen Kleidungsstücken in der Waschmaschine, bis ihr ganz schwindlig war.

„Oh Gott, ist mir schlecht!“ jammerte das schwarze Unterhemdchen und krallte sich an dem blauen T-Shirt fest.

„Ich glaub, du bist eher ein Handwäschetyp, oder?“, fragte Ringel. Das Hemdchen tat ihr jedes Mal leid, wenn ihm beim Schleudergang so übel wurde.

„Ja, es stand ja auch auf meinem Etikett“, heulte es, „Aber sie hat es einfach abgeschnitten. Sie hat keine Lust, mich mit der Hand zu waschen. Dabei habe ich doch eine so furchtbar empfindliche Seidenmischung…“

„Na komm, das wird schon wieder. Komm, häng dich ein bisschen neben mich“, lud das T-Shirt es ein. Ringel beobachtete die beiden. Sie hatten schon immer nebeneinander in der unteren Schublade gelegen und kannten sich richtig gut. Außerdem war Ringel sich sicher, dass das T-Shirt ein wenig in das schwarze Seidenhemdchen verliebt war. Kein Wunder, es war ja auch wirklich hübsch anzusehen und hatte einen sehr weichen, edlen Stoff. Ringel ließ sich neben die anderen Socken hängen. Es störte sie nicht, ein wenig Luft zu schnappen, neben dem Heizkörper war es schließlich angenehm warm. Außerdem bekam sie dort mit, was die Menschen so trieben und wie sie Weihnachten feierten. Aber ein wenig traurig wurde sie schon, als sie hörte, dass die dunkle Wäsche erst in den nächsten Tagen gewaschen werden würde. Das hieß, dass sie es eine ganze Weile ohne Socke aushalten musste.

 

Sehnsucht (Teil III)

Ringel war verzweifelt. Seit drei Tagen lag sie einsam im Koffer. Nicht, dass sie alleine gewesen wäre, schließlich war da ja noch die ganze frische Wäsche, die die Menschen bis zum 28. Dezember nicht benutzt hatten. Aber was brachten ihr denn die ganzen alten Klamotten, wenn Socke nicht bei ihr war? Niemand konnte ihr sagen, wo sie war. Einmal hatte sie Hoffnung geschöpft, als ihr eine der Hosen aus dem Separée des Koffers zurief, dass ein neuer Schwung Wäsche gewaschen worden war. Doch auch dieses Mal kam Socke nicht zu ihr zurück. Die Menschin hatte wohl doch nur ihre Wollpullis gewaschen. Dann ging das Gerücht um, dass die Waschmaschine kaputtgegangen sei und der nächste Waschtag erst in drei oder vier Tagen in Deutschland stattfinden würde. Es war zum Verzweifeln. Ringel konnte sich nicht daran erinnern, in ihrem ganzen Strumpfleben jemals so traurig gewesen zu sein. Sie schloss die Augen und dachte zurück an den Tag, als sie, Socke und die anderen beiden Sockenpaare noch bei NKD im Wühlkorb lagen und die Menschin sie gekauft hatte. Sie waren weit unten gelegen, unter den Socken in Größe 35 bis 38. Die Menschin schien nicht aufgeben zu wollen, sie wühlte und suchte, bis sie endlich mit einem leisen Freuden-Ja! auf das Dreierpack in Größe 39 bis 42 gestoßen war. Sie hatte sie hochgehalten, sie noch einmal angeschaut und ein richtig glückliches Gesicht gemacht. Dann hatte sie die sechs Socken zur Kasse getragen und bezahlt. Sie wurden in eine rote Plastiktüte gesteckt und aus dem Laden getragen. Draußen war es kalt gewesen, sie hatten ein wenig gefroren, aber der Weg bis nach Hause war nicht weit gewesen. Dann wurden sie aus der Tüte genommen und auf einen Tisch gelegt, wo die Menschin ihnen sofort die lästigen Etikette abgeschnitten hatte. Sie hatte die drei Sockenpaare so zusammengelegt, dass sie einander umschlangen. Es war der glücklichste Tag in Ringels und Sockes Leben gewesen: sie schworen einander, nie wieder getrennte Wege zu gehen. Und nun hatte das Schicksal ihnen so böse mitgespielt und sie auseinander gerissen.

„Nun beruhig dich mal wieder, Ringel. Socke wird ganz sicher nicht hierbleiben. Morgen ist Abfahrt, dann wird sie sicher gleich gewaschen, aufgehängt und dann seid ihr wieder vereint. Hör auf zu weinen, sonst bekommst du noch nasse Bündchen und musst selbst wieder in die Waschmaschine.“

Ringel hatte gar nicht gemerkt, dass sie vor lauter Sehnsucht weinte. Als nun das freundliche Schlafshirt ihr diesen Ratschlag gegeben hatte, schluchzte Ringel noch ein wenig lauter auf.

„Aber sie ist nun schon eine ganze Woche weg!! Ich halte das nicht mehr aus! Ich vermisse sie so sehr“, heulte Ringel.

„Das kommt dir nur so vor, eigentlich sind es erst fünf Tage“, sagte das Schlafshirt und wiegte Ringel ein wenig hin und her, fast so, als wolle es Ringel zum Einschlafen bringen.

Plötzlich hatte Ringel einen Einfall. Und wenn ich nun so viel weine, bis ich ganz nass bin? Dann muss die Menschin mich doch wieder in die Schmutzwäsche geben… Der Gedanke gefiel Ringel so gut, dass sie geschlagene dreißig Minuten weinte, bis sie durch und durch nass war. Natürlich wurde nicht nur sie davon nass, sondern auch die Unterhosen und das Schlafshirt, die sich mit ihr im Koffer befanden.

„Ach Ringelchen. Was soll denn die Menschin denken, wenn sie nichts Trockenes mehr zum Anziehen findet?“ fragte das Schlafshirt mit seiner sanften, tiefen Gutenacht-Stimme.

„Das wird ihr eine Lehre sein. Socken darf man nicht einfach so trennen“, antwortete Ringel trotzig.

Am nächsten Morgen wurde der Koffer geöffnet. Die Menschin machte tatsächlich ein sehr verdutztes Gesicht, als sie einen Haufen feuchter, leicht müffelnder Wäsche vorfand. Sie brummte etwas, nahm Ringel, das Schlafshirt und die Unterwäsche heraus und schmiss sie unvorsichtig in eine Plastiktüte. Ringel verhielt sich still und wartete ab. Als sie jedoch sah, dass die Menschin andere Kleidungsstücke in den Koffer legte, erschrak sie furchtbar: unter den frischgewaschenen Wollpullovern lugte Sockes gestreiftes Bündchen hervor. Doch bevor Ringel ihr etwas zurufen konnte, war der Koffer auch schon wieder geschlossen worden.

 

 Die Rückkehr (Teil IV)

Socke war so sauer, dass sich der Gummi in ihrem Bündchen kräuselte. Sie hatte sich todesmutig mit den Wollpullis in eine zwanzig Grad Wäsche gestürzt, um so schnell wie möglich wieder bei Ringel zu sein. Zwanzig Grad, das musste man sich mal vorstellen, für einen Strumpf, der sonst bei vierzig Grad gewaschen wurde, war das viel zu kalt, hinzu kam dieses Feinwaschmittel, dessen Duft Socke nicht ausstehen konnte. Den Wollpullovern mochte es ja gefallen, nach langweiligem Perwoll zu riechen, aber sie selbst war Dash und einen ordentlichen Schuss Lenor gewöhnt, da konnte sie mit diesem nichtssagenden Feinwaschmittel nun wirklich nichts anfangen. Und was hatte Ringel getan? Wenn sie den Erzählungen der amerikanischen Jeanshosen glauben durfte, hatte Ringel erst vor lauter Verzweiflung und dann aus Rache des gesamten Koffer vollgeheult und mit ihren Tränen die gesamte Unterwäsche und die Pyjamas durchnässt, sodass sie erneut gewaschen werden mussten. Hätte Ringel nicht einfach noch einen Tag lang auf sie warten können? Andererseits rührte Ringels Sturmflut Socke sehr, nie hätte sie sich einen solch mutigen Schritt von ihrer buntgestreiften Freundin erwartet.

Auch die Fahrt nach Deutschland war lang, im Kofferraum des Autos war es kühl, draußen herrschten eisige Temperaturen. Ringel lag im Dreckwäschesack neben dem schlafenden, müffelnden Schlaftshirt und wünschte sich zu Socke, die nun nur einige Zentimeter neben ihr lag, von der sie aber durch eine dicke Hartplastikschicht getrennt war. Dennoch war Ringel sich sicher, dass sie spätestens am zweiten Tag bei den Eltern der Menschin gewaschen und aufgehängt werden würde. Und wer weiß?, vielleicht würde die Menschin sie ja sogar anziehen und mit ihnen einen Ausflug in ihre alte Heimat machen: in den NKD, wo sie sie gekauft hatte. Sie stellte sich vor, wie sie sie morgens anziehen würde, dann hinein in die Klamotten und in die Schuhe, dann mit fröhlichen Sprüngen die Holztreppen herunter, und auf ging es ins Zentrum. Heimatluft schnuppern, durch die belebte Innenstadt spazieren, an den Schaufenstern stehen bleiben und dann hinein in den Laden, wo sie einst ganz unten auf dem Wühltisch gelegen hatten… eine allzu schöne Vorstellung!

Plötzlich ging der Kofferraum auf und kalte Luft strömte hinein. Der Koffer und einige Tüten wurden ausgeräumt, fröhliche Menschenstimmen wurden laut. Dann wurde der Kofferraum wieder geschlossen.

„Die dreckigen Sachen wasche ich dann zu Hause“, sagte die Menschin zu ihrem Mann.

„Ist gut. Sind ja nur noch ein paar Tage.“

Ringel erschrak, ihre Spitze verkrampfte sich. Dann stupste sie heftig mit der Ferse gegen das Schlaftshirt.

„Die… die wollen uns nicht waschen…“ Ihre Stimme zitterte, wieder rollten Tränen über ihren gestreiften Schaft. Ehrliche Tränen, keine, die sie aus Trotz zerquetschte.

Das Schlaftshirt sah sich um, nahm Ringel in den Arm und versuchte, ihr gut zuzusprechen.

„Vielleicht überlegt sie es sich ja noch einmal. Vielleicht gehen ihr ja die Socken aus. Dann wird sie dich suchen.“

„Nein!“, rief Ringel, „Sie wird wieder zu NKD gehen und sich neue kaufen! Sie kauft einmal im Jahr drei paar neue Socken! Das hat sie noch jedes Jahr getan! Sie wird mich nicht suchen! Ich werde Socke nie wieder sehen, nie wieder!!“

Ringel war außer sich und kämpfte sich durch die feuchten Kleidungsstücke an die Oberfläche des Wäschesacks. Dunkelheit und Kälte empfingen sie. Es war ihr egal. Ringel wollte nicht mehr leben. Am liebsten hätte sie sich am losen Faden der alten, hellgrünen Unterhose aufgehängt.

*

Die Tage vergingen, eine ganze Woche, eine Ewigkeit. Ringel im Wäschesack, Socke im Koffer. Ringel in Gedanken bei Socke, Socke in Gedanken bei Ringel. Wut, Enttäuschung, Traurigkeit. Endlose Stunden. Der Versuch, nicht an das Schicksal zu denken, sondern an eine wunderschöne Reise. Gemeinsame Stunden in der Wäscheschublade, ineinander verschlungen. Ringel und Socke forever.

Und plötzlich war der Urlaub vorbei. Der Kofferraum wurde geöffnet, der Wäschesack beiseite geschoben und in die hintere Ecke gequetscht, der Koffer mit einem kräftigen Schubs daneben gehievt. Und noch eine Tüte wurde dazugestellt, dieses Mal ein wenig behutsamer. Der Geruch von französischem Käse machte sich breit.

„Und da behaupten sie, wir würden nach Käse stinken!“, lamentierte eine weiße Tennissocke, die oben auf dem Wäschesack lag, „Das ist ja eine Zumutung, dieser Camembert!“

„Ja, grauenhaft, aber ich glaube, das ist eher ein reifer Münsterkäse“, antwortete die alte, hellgrüne Unterhose. „Selbst ich habe in meinen schlimmsten Zeiten nie so gestunken!“

Ringel war der Gestank egal. Wurde erst einmal der Käse eingepackt, hieß es, zurück nach Hause, in die Waschmaschine, in die Schublade neben dem Bett und somit zurück zu Socke. Alles würde gut werden, Stinkekäse hin oder her. Endlich ein Lichtblick im Leben der traurigsten Ringelsocke der Welt.

*

„Socke?“

„Ringel?“

„Ich bin hier!“

„Wo denn, ich sehe dich nicht!“

„Unter der grauen Strumpfhose!“

„Ich komm hier nicht weg… versuch, zu mir zu kommen!“

„Ich kann auch nicht! Hier ist kein Platz mehr… ich bekomme kaum Luft!“

„Macht ihr Platz! Aus dem Weg, ihr Neustrümpfe!“

„Socke… es hat keinen Sinn… Ich schaffe es nicht!“

Mit einem Ruck öffnete sich die Schublade. Eine Hand griff hinein.

 

„Ach hier seid ihr…“, flüsterte die Menschin und nahm erst Socke auf, dann griff sie unter die graue Strumpfhose, die Ringel eingeklemmt hatte.

„Na endlich hab ich euch wieder…“, sagte sie leise und betrachtete die beiden Damenstrümpfe einen Moment lang, bevor sie sie wieder zusammenlegte und vorsichtig neben die Wollsocken legte.

 

„Socke?“

„Ja, mein Ringelchen?“

„Ich hatte in diesen furchtbaren Tagen einen wunderschönen Traum.“

„Erzähl mir davon…“

„Wir haben Urlaub gemacht.“

„Und wo?“

„Im fernen Calzedonia…“

Ende