Teil I
Mittwoch.
20:13:16
Tom betritt seine Wohnung. Es war ein langer Tag, seit halb acht war er im Büro, hatte sich den ganzen Tag mit den Problemen und Wünschen der Kunden herumgeschlagen, hatte sie beraten und beschwichtigt, ihnen zugehört und für ihre Zufriedenheit gesorgt. Dann war er wie so oft Laufen gegangen, erst durch die Bozener Innenstadt, anschließend die Talfer entlang, um den Kopf freizubekommen. Nun endlich ist er daheim, endlich auf das Sofa, endlich kann er den PC anschalten, eine Kleinigkeit essen und dann nur noch spielen, spielen, spielen. Gegen 21 Uhr wird seine Freundin anrufen, er freut sich trotz der Müdigkeit darauf, Marlenes Stimme zu hören.
21:05:17
Das Telefon surrt auf dem kleinen Tischchen neben dem Schreibtisch. Tom schreckt auf. Ist er doch tatsächlich vor dem Fernseher eingeschlafen. Hektisch wischt er über das Touchpad, nimmt den Anruf seiner Freundin entgegen. Auch sie klingt müde und abgehetzt, sie erzählen sich nur kurz von ihrem Tag und wünschen sich dann eine gute Nacht.
21:09:23
Das Telefon brummt erneut, dazu erzeugt es ein klackerndes Geräusch. Eine Nachricht. Tom beachtet sie erst nicht, macht noch einen Spielzug, dann nimmt er das Telefon erneut in die Hand. „Samstagvormittag zu Hause bleiben. Jetzt bist du dran.“, schreibt sein Freund Matteo. Tom runzelt die Stirn, schiebt seine Unterlippe ein wenig vor und wählt Matteos Nummer, um den Hintergrund dieser bedrohlichen Nachricht zu verstehen. Doch Matteo hat sein Telefon bereits ausgeschaltet.
Freitag.
19:30:56
Die Wohnungstür öffnet sich, Tom steht auf, er hat gerade etwas zu essen gerichtet. Endlich ist sie da, Marlene, Toms große Liebe. Sie sieht müde aus, die Fahrt war anstrengend, aber nun ist ja endlich Wochenende. Tom nimmt sie in den Arm, küsst sie sanft. Sie lächelt, schnuppert, freut sich wie immer über seine Kochkünste, mit der er sie am Wochenende verwöhnt. Sie ist glücklich, endlich bei ihm zu sein.
20:45:19
„Du bist morgen Vormittag um 10 Uhr zu Hause. Geh nicht aus dem Haus. Zieh dir alte Sachen an.“ Schon wieder Matteo. Was hat der Kerl bloß, fragt Tom sich und zeigt seiner Freundin die dubiosen Nachrichten der letzten Tage. Sie zuckt mit den Schultern und sieht Tom mit großen Augen an. „Was will er?“, fragt sie und trinkt noch einen Schluck Wein. Dann stellt sie die Teller zusammen, trägt sie in die Küche und beginnt mit dem Abwasch. „Ich habe keine Ahnung. Aber das klingt bedrohlich. Ich weiß nicht, was sie vorhaben.“ „Wir müssen am Montag zum Standesamt, um das Aufgebot zu machen. Du hast dir doch freigenommen, oder?“, wechselt Marlene das Thema.
Samstag.
09:55:30
Marlene ist im Bad, sie ist mit ihren Haaren beschäftigt. Die Tür ist abgeschlossen, sie mag es nicht, wenn man ihr dabei zusieht. Tom sitzt auf dem Sofa, nippt an seinem Kaffee, er weiß nicht, ob er wirklich im Haus bleiben soll. Er steht auf, er ist nervös, zappt sich noch einmal durch die Kanäle, sieht die Wettervorhersage, da klingelt es Sturm an der Tür. Vor lauter Schreck lässt er seine Kaffeetasse fallen, er flucht leise, will den Schaden beseitigen, doch es klingelt noch lauter, jemand klopft wild an die Tür. Marlene ruft nach ihm, kommt aus dem Bad, machte die Tür auf, wird zur Seite gestoßen. Tom hat nicht einmal Zeit, sich umzudrehen, da wird er von hinten überwältigt. Zwei Personen halten ihn fest, ein weiterer stülpt von hinten einen schwarzen Sack über seinen Kopf. Er wehrt sich, versucht, sich den Sack vom Kopf zu reißen, doch er hat keine Chance. Er riecht das Plastik, sieht schwarz, er hat einen Moment lang Angst, er könne ersticken, doch dann sieht er, dass überall kleine Luftlöcher sind und beruhigt sich ein wenig.
10:01:04
Zu dritt zerren sie ihn in den Wagen, Tom wehrt sich mit aller Kraft, doch sie sind stärker. Sie nehmen ihn an den Armen und ziehen ihn vor die Haustür gezogen, er hat sich den Kopf gestoßen, so grob sind sie. Er erkennt ihre Stimmen nicht, nur die von Matteo. Bis jetzt haben sie kaum miteinander gesprochen, nur ein paar Mal einander etwas zugeflüstert. Die Türen werden geschlossen, er hört, wie die Zentralverriegelung des Autos klickt, er kann nicht aussteigen, er sitzt auf der hinteren Bank zwischen zwei Personen, die ihn weiterhin an den Armen halten. Ihm ist heiß, er schwitzt in dem schwarzen Plastiksack, doch er bekommt genug Luft zum atmen. Immer wieder fragt er, wer sie sind, und wo sie mit ihm hinfahren werden. Sie lachen nur, geben ihm keine Antwort…
Teil II
10:10:13
Der Wagen hält, Tom lauscht angestrengt und versucht, sich zu orientieren. Doch es waren zu viele Kurven, zu viel Stop and Go, er findet sich nicht mehr zurecht. Dann gibt der Fahrer wieder Gas, hupt und verrät sich, weil er über den Wagen vor sich schimpft. Tom erkennt einen weiteren Freund, es ist Marco. Marco und Matteo also. Er versucht, seine Arme zu heben, um sich im schwarzen Sack den Schweiß von der Stirn zu reiben, doch der Sicherheitsgurt ist im Weg. „Immerhin haben meine Entführer daran gedacht, ihn mir anzulegen“, denkt er und lehnt sich vorsichtig zurück. Tom hat nicht nur die Orientierung, sondern auch das Zeitgefühl verloren: er weiß weder, wo er ist, noch, wie lange sie bereits unterwegs sind.
10: 20: 04
Die Autotür wird geöffnet. Eine starke Hand hält ihm den Kopf und lässt ihn aussteigen. Tom stolpert, fängt sich dann aber doch und lässt sich ein paar Meter weiterführen. Eine weitere Tür wird quietschend geöffnet. Die Männer lachen. Dann endlich befreien sie ihn von dem schwarzen Sack, er spürt den Schweiß, der ihm in Rinnsalen über den Rücken läuft und wischt sich mit dem Arm über die Stirn. Endlich sieht er seine Widersacher vor sich. Vier seiner besten Freunde stehen wiehernd im Kreis um ihn herum und lachen Tränen. Tom wird einen Moment lang wütend, er erhebt seine Stimme, fragt laut, was das Ganze soll, wo er hier sei, sie antworten nicht, sagen nur: Los, geh dich umziehen, da geht es lang!
10:21:45
Tom sieht sich um. Ein graubraunes Gelände liegt vor ihm, überall stehen Hindernisse, Holzbarrieren, Wände, Schutzwälle aus Stein, Bäume, Büsche, der Boden ist matschig. In der Ferne hört er Schüsse, das Rattern der Paintballguns. Dann ertönen ein paar Schreie, Befehle, ein paar junge Männer rennen über das Gelände, ihre Militäranzüge sind voller Farbflecken. Sekunden später verschwinden sie im Unterholz.
Matteo drückt Tom eine große Plastiktasche in die Hand, schiebt ihn vor sich her, sagt, er solle sich beeilen, die Jäger seien schon bereit. Tom wird in eine Blechhütte geschoben, er öffnet die Plastiktasche, zum Vorschein kommt ein Bärenkostüm. „Na, das kann ja heiter werden“, flüstert Tom verzweifelt und steigt in das Kostüm.
10:30:06
Tom, der Bär und vier Jäger, die es auf ihn abgesehen haben. Sie haben sich in einer Reihe aufgestellt, die Pumpguns im Anschlag. Tom nimmt Anlauf, dann spurtet er todesmutig an ihnen vorbei. Obwohl er nur knappe zwanzig Meter laufen soll, scheint die Strecke kein Ende nehmen zu wollen. Er rennt so schnell er kann, trotzdem fühlt er sich, als würde er in Zeitlupe an seinen Freunden vorbeirennen. Ein Farbball nach dem anderen trifft ihn, sie tun weh, er spürt, wie sie auf seinen Beinen, seinen Armen und auf seinem Rücken landen, an seinem Körper zerplatzen und Blutergüsse hinterlassen. Platsch! Eine Kugel ist an seiner Schulter gelandet. Die Gewehre rattern, es hört sich an wie im Krieg. Nur ein paar Sekunden vergehen, doch Tom scheint der Weg an den Freunden vorbei nicht mehr zu enden.
10:35:14
Matteo kriegt sich kaum mehr ein, er schießt ein Foto nach dem anderen von Tom, dem buntgefärbten Bären. Marco nimmt ein wenig Abstand von der Gruppe, Tom beobachtet aus den Augenwinkeln, wie er eine Nummer wählt und sich dann das Telefon ans Ohr hält. „Was denn nun noch?“, fragt er sich und versucht, ein paar Worte aus dem Telefonat zu erhaschen.
„Wir haben deinen zukünftigen Ehemann entführt“, hört er heraus.
„Du willst ihn freikaufen? Ja natürlich, aber nur, wenn du Lösegeld zahlst. Oder sagen wir es so, du kannst natürlich auch wiederhaben, wenn du für ein ordentliches Mittagessen nach der Schlacht sorgst…“
Teil III
10:36:00
Marlene starrt ihr Telefon an. Sie glaubt nicht, was sie da eben gehört hat. Diese vier Trottel haben Tom entführt. Daher also diese seltsamen Nachrichten der letzten Tage, dass er um zehn Uhr daheim sein solle und sich alte Sachen anziehen müsse. Marlene setzt sich auf das Sofa, sie versteht nicht, was Matteo mit dieser Schlacht meinte. Sie wählt die Nummer von Monica, seiner Frau. Monica ist überrascht, als Marlenes Anruf sie erreicht und sie sich bei ihr erkundigt, wo ihr Mann sei.
„Oh, ich glaube, Matteo spielt heute Vormittag Paintball. Du weißt schon, in diesem alten, schäbigen Gelände da hinten in der…“ Marlene hat verstanden. Sie wartet nicht einmal das Satzende ab, sondern schnappt sich die Autoschlüssel und ihre Tasche und tritt das Gaspedal durch.
11:15:56
Marlene steht vor dem Gatter, das zum Paintballgelände führt. In der Ferne hört sie Rufe und das Rattern der Pumpguns. Das Tor ist abgeschlossen, aber Marlene findet ein kleines Loch in der Böschung. Angestrengt schaut sie durch, bis sie tatsächlich ein paar Personen erkennen kann. Immer wieder rennen ein paar junge Männer in olivgrüner Kleidung vorbei, sie sehen aus wie Soldaten. Nur einer von ihnen trägt braune Kleidung. Was heißt Kleidung, bei genauerem Hinsehen bemerkt Marlene, dass der Mann eine Art Fellkostüm trägt, das von oben bis unten mit Farbklecksen besudelt ist. Die Person dreht sich einen Moment lang um, da erkennt Marlene ihren Freund Tom. Sie schreit auf, Tom hört sie, schleicht sich zu ihr, sie berühren sich kurz durch das Loch in der Hecke.
„Marlene… hol mich hier raus… Bitte… die spinnen alle!!“, flüstert Tom hektisch.
„Matteo sagte, ich soll dich mit einem Mittagessen freikaufen…“, antwortet Marlene und sieht die Panik in Toms Augen. Schon nähert sich eine grüne Gestalt und zieht Tom am Fuß. Er wehrt sich, strampelt und kann sich losmachen.
„Hol irgendwas… Hauptsache, es reicht für all diese Idioten. Kauf zwanzig Bratwürste und Kartoffelsalat!“
Der Soldat nähert sich dem Loch in der Hecke, grinst Marlene ins Gesicht und sagt: „Pizza für alle und du kriegst deinen Mann lebend wieder!“ Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwindet er mit Tom hinter der Blechhütte.
12:00:07
Marlene steht an der Kasse der Pizzeria und beobachtet nervös den Pizzabäcker. Unglaublich, ganze zwanzig Minuten hat er gebraucht, um die sechs Pizze vorzubereiten und ins Feuer zu schieben. Mit einer unendlichen Ruhe faltet er die Kartons, dann legt er sie herein und schließt sie, während Marlenes Geduldsfaden zu reißen droht.
12:15:14
Endlich öffnet sich das Tor. Marlene sieht den Weg kaum, so hoch stapeln sich die Pizzakartons in ihren Händen. Sie hört die Rufe der Männer, dann kommt Tom auf sie zu und nimmt ihr die obersten drei Kartons ab. Er trägt nun kein braunes Kostüm mehr. Sie beobachtet ihren Freund, er ist verschwitzt und humpelt ein wenig. Als er die Pizzakartons auf dem Holztisch abstellt, bittet er Marlene, seinen Hinterkopf nach der Kriegsverletzung zu untersuchen. „Kriegsverletzung?“, fragt Marlene belustigt. „Ich bin im Eifer des Gefechts rückwärts gegen einen Baum gerannt. Ich glaub, ich habe eine riesige Beule!“
Einige Minuten später sitzen Tom, Marlene und die vierköpfige Entführerbande auf den Holzbänken und genießen ihr Mittagessen. Toms Arme und Beine schmerzen, er hat ein gutes Duzend Paintballs abbekommen, seine Arme und sein Rücken sind von großen, blauen Flecken übersät. Doch er beklagt sich nicht, schließlich ist er froh, dass seine Freunde ihm einen würdigen Junggesellenabschied geschenkt haben. Als er und Marlene am frühen Nachmittag nach Hause kommen, erhält Marlene eine Nachricht von ihrer besten Freundin Erika: „Hier bei uns in Südtirol werden aber nicht nur die Bräutigame entführt, meine Liebe, also mach dich auf was gefasst…“.