
Ferdinand streckte sich, drückte den Rücken durch und setzte sich dann wieder kerzengerade auf den Besucherstuhl. Sein Blick wanderte durch das weiße Zimmer. Die kahle Wand wurde von einem schmutzigen Fenster unterbrochen. In der linken Ecke des Zimmers, also genau hinter ihm, hing ein Fernseher. Sein Nutzen war Ferdinand allerdings unklar, schließlich schaltete sein Vater ihn ja nie ein. Wie denn auch, er konnte ja nicht einmal die Finger bewegen, um die Fernbedienung zu benutzen, geschweige denn fernsehen oder zuhören.
Über dem Bett hing ein kleines hölzernes Kruzifix. Ferdinands Blick blieb daran hängen. Er sah Jesus mit der Dornenkrone und den Stigmata einige Minuten lang an. Sein bärtiges Gesicht war leidend, schicksalsergeben, dennoch weinte der Gekreuzigte nicht. Seine Hände und Füße bluteten, die Rippen hoben sich von seinem mageren Körper ab. Unter den Rippen sah man die Wunden, die man ihm mit den Lanzen in den Leib gestoßen hatte, um zu sehen, ob er noch lebte.
Ferdinand mochte das Kruzifix nicht. Vor einigen Wochen, als man seinen Vater hierhergebracht hatte, hatte Ferdinand beim Anblick des hölzernen Jesus Hoffnung geschöpft. Er hatte gedacht, nun ist er bei meinem Papi, er wird ihm schon wieder auf die Beine helfen, er und die Ärzte werden es schon richten. Es würde schon alles wieder gut werden. Doch nichts wurde gut, egal, wie oft er Jesus am Kreuze um Hilfe gebeten hatte. Erst hatte er ihn ganz leise und vorsichtig angesprochen und ein kleines Gebet aufgesagt. Er hatte geflüstert, weil er sich ein wenig geschämt hatte. Dann, als tagelang nichts passiert war, hatte er ihn angefleht. Er hatte geweint, hatte ihn wieder und wieder gefragt, wie er denn bloß seinem Vater helfen könne, doch Jesus hatte stets geschwiegen. Dann hatte Ferdinand die Wut gepackt und er hatte ihn angeschrien, er solle ihm endlich eine Antwort oder ein Zeichen geben, doch nichts war geschehen. Jesus hatte einfach nur weiter da oben an seinem Kreuz gehangen und Ferdinand hatte versucht, ihn zu strafen, indem er ihn nicht einmal mehr beachtete, wenn er ins Zimmer kam.
Jetzt verengten sich seine Augen und er ließ vom Kruzifix ab. Er drehte den Kopf, stand langsam auf und ging zum Fenster. Dieser ewige Schnee, er hörte einfach nicht auf. Immer noch fielen die Flocken dick und nass vom wolkenverhangenen Himmel und glitzerten im Schein der Straßenlampen, die den Parkplatz erhellten. Ferdinand mochte auch den Schnee nicht mehr, genau wie Jesus.
Früher einmal, da hatte er den Schnee geliebt. Sein ruhiges Weiß, die Kälte und die Stille, die er brachte, hatten ihm stets ein Gefühl der Geborgenheit gegeben. Doch nun hatte sich auch der Schnee als falscher Freund entpuppt und ihm das Liebste genommen. Eine Lawine war vor einem knappen Monat abgegangen und hatte seine Mutter erstickt und nahezu alle Knochen ihres schmalen Körpers zerbrochen. Man hatte sie geborgen, ihr Leben hing noch an einem seidenen Faden. Sie war ins Krankenhaus gebracht worden und dann auf dem Operationstisch ihren schlimmen Verletzungen erlegen.
Ferdinand sah sie immer wieder vor sich, wie sie auf dem Totenbett gelegen hatte, ihre schwarzen Haare, die sie sonst als Zopf trug, lagen offen auf dem Kissen. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Gesicht weißer als der Schnee. Ihre feinen, schwarzen Wimpern hatten sich keinen Millimeter bewegt. Überall hatte sie dunkle Flecken gehabt, im Gesicht, am Hals, auf den Armen. Als er ihr einen Kuss auf die Stirn geben wollte, hatte sich ihre Haut ganz kalt angefühlt, die Wärme war schon Stunden zuvor aus ihrem zierlichen Körper gewichen. Er hatte sie sanft an den Schultern gepackt, Ferdinand hatte einfach nicht verstanden, dass sie tot war. Er begriff nicht, dass sie ihre Seele am Berg gelassen hatte, dass er nun keine Mutter mehr hatte. Er hatte sie bei den Oberarmen genommen und kräftig geschüttelt, doch der Körper seiner Mutter war starr liegen geblieben.
Er hatte seine Großmutter um Hilfe gebeten, doch diese hatte nur mit Schluchzen und einem Vaterunser reagiert. Ferdinand war wütend geworden, schreiend war er aus dem Zimmer gelaufen, hatte geflucht und die Ärztin angerempelt. Ein Pfleger war hinzugekommen, dann hatte der Großvater ihm eine ordentliche Ohrfeige gegeben und ihn an sich gezogen. Erst in diesem Moment hatte Ferdinand begriffen, dass seine Mutter Marie nicht mehr mit ihnen nach Hause kommen würde. Daraufhin hatte er sich zitternd auf einen Besucherstuhl gesetzt und eine halbe Stunde vor sich hingestarrt, bis sie endlich kamen, die erlösenden Tränen. Der Pfarrer, die Großeltern und die Ärztin hatten neben ihm gesessen, bis er sich wieder gefangen hatte.
Ferdinands Vater Reinhold hatte den Lawinenabgang im hinteren Martelltal überlebt. Er hatte es geschafft, in der Lawine zu schwimmen und an ihrer Oberfläche zu bleiben. Er wusste, wie man sich zu bewegen hatte und dass man vor dem Gesicht einen Hohlraum mit den Händen bilden musste, um sich wenigstens ein paar Minuten Sauerstoff zu sichern. Doch trotz seiner Geistesgegenwart und allen Geschicks war es ihm nicht gelungen, bei Bewusstsein zu bleiben. Man hatte ihn schließlich kopfüber im Lawinenkegel gefunden, er war ohnmächtig, die Lawine hatte seine Gliedmaßen verdreht. Mit dem Hubschrauber wurde er ins Krankenhaus nach Schlanders gebracht, wo man ein schlimmes Schädel-Hirn-Trauma festgestellt hatte.
Zwei Wochen lang hatte er im Koma gelegen, dann hatte er einen Moment lang das Bewusstsein wiedererlangt, die Familie und die Ärzte hatten Hoffnung geschöpft, doch was dann folgte, war schlimmer als der dauernde Schlaf. Ferdinands Vater hatte schlimme Schmerzen und wenn er nicht gerade vor sich hindämmerte, verkrampften sich seine Glieder und sein Gesicht. Er litt unter Fieberschüben und schaffte es oft kaum zu atmen, er röchelte und manchmal weinte er sogar dicke Tränen, die sein Kissen durchnässten. Die Ärztin hatte Ferdinand erklärt, dass diese Tränen von der Verletzung seines Gehirns herrührten, doch Ferdinand war sich sicher, dass Reinhold vor Schmerzen und aus Trauer um Marie weinte. Die Mediziner wussten nicht weiter, sie hatten ihn untersucht, wo sie nur konnten, die verschiedensten Arzneien ausprobiert, aber nichts schien zu helfen. Sein Körper hatte unter der Last der Lawine einen zu großen Schaden genommen, zu lange hatte seinem Gehirn der nötige Sauerstoff gefehlt.
Mit jeder Flocke, die vom Himmel fiel, wuchs Ferdinands Zorn auf den Schnee.
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