Das Geheimnis des alten Sekretärs

Teil I

Heute Morgen stand der Sekretär vor meinem Geschäft, vom heftigen Regen ganz nass und verdreckt. Laub klebte an seinen Beinen, auch ein Zigarettenstummel. Alt war er, er stammte sicher aus dem neunzehnten Jahrhundert. Aus Eichenholz, dunkel, schwer, mit schwarzem Schmiedeeisen verziert, zwölf Schubladen, zehn über der Schreibfläche und zwei darunter. Aus edlem Holz gefertigt, er hatte nur ein paar Scharten in seinem langen Leben davongetragen.

Zunächst war ich bestürzt. Statt unser Geschäft zu kontaktieren hatte man den alten Herrn einfach vor unserer Ladentür abgestellt und wie einen lästigen Hund ausgesetzt. Wer tat so etwas? Stand denn nicht groß an der Ladentür unser Name „Antiquitäten Federspiel – Abholservice“? Warum überließ man uns nicht einfach die Arbeit und schonte damit die guten, alten Dinge? Ich streichelte kurz über sein nasses Holz und sah mich um, doch ich konnte keinen verdächtigen Lieferwagen entdecken. Auch stand an der Passeierpromenade in Meran keine einzige Person, die neugierig oder verschämt zu unserem Antiquitätenladen herüberlugte

. Mir fiel auf, dass ich mit dem alten Sekretär völlig allein war. Es passierte selten, dass morgens um sieben Uhr kein Mensch über die Promenade lief. Ich betrachtete den alten Herrn noch einmal und suchte nach einem Taschentuch, um ihm die Regentropfen von den Schublädchen zu wischen. Es war, als würde ich seine Tränen wegtupfen, die er in diesen einsamen Stunden vor unserem Geschäft geweint hatte. Als ich mich wieder umdrehte, war die Straße plötzlich belebt. Vielleicht war die Zeit einfach nur einen Moment lang für uns beide stehengeblieben.

Ich musste mich an ihm vorbeizwängen, um die Ladentür aufschließen zu können. „Haben Sie keine Angst“, sagte ich in Gedanken zu ihm, „Gleich bringe ich Sie ins Trockene.“ Dann rief ich meinen Mann an, um ihm von meinem unverhofften Gast zu berichten. Er sollte Ludwig, unseren Sohn schicken, damit er mir dabei half, den Sekretär ins Geschäft zu wuchten. Mein Mann versicherte mir, dass sie in weniger als einer halben Stunde bei mir sein würden. Ich beschloss, in dieser Zeit bei ihm zu bleiben und ihn so gut wie möglich zu trocknen. Dann, sobald er hinten im Lager stehen würde, wollte ich sein Holz mit Wachs behandeln und ihn polieren, damit er bald wieder wie neu glänzte. Und dann versprach ich ihm, ihn nicht zu verkaufen, auch wenn mein Mann damit sicher nicht einverstanden sein würde.

Zweiundzwanzig Minuten verbrachte ich mit dem alten Sekretär und verbrauchte fünf Lappen, bis er endlich nicht mehr aus seinen Falten tropfte. Ich stellte mir dabei vor, wie sein Leben verlaufen war. Wie oft er vererbt worden war, in wie vielen Kellern er gestanden hatte. Wie oft jemand an ihm gesessen hatte, um zu schreiben. Ob Kinder an ihm gespielt hatten. Sein Leben lief an mir vorbei wie in einem kitschigen Schwarzweißfilm. Immer wieder streichelte ich über seine Ecken und die eisernen Scharniere und merkte nicht, wie ich mich innerhalb kürzester Zeit in ein zweihundert Jahre altes Möbelstück verliebt hatte.

 

Teil II

Ludwig und Gerhard fluchten leise und ächzten laut, als sie den schweren Sekretär ins Lager brachten. Gerhard fragte mich aus, ob ich denn wirklich niemanden gesehen hatte und von wem der Tisch denn nun stammen könne. Ich beteuerte meine Unwissenheit und bat ihn, sich heute Vormittag um die Kunden zu kümmern, ich würde ihn auf Vordermann bringen. Und ihn nicht verkaufen, doch diesen Gedanken sprach ich nicht aus. Gerhard kannte mich gut genug, um zu verstehen, dass dieser Sekretär bereits seit der ersten gemeinsamen Minute mir gehörte. Gerne, Elisabeth, sagte er, gab mir ein Küsschen und ließ mich mit meinem neuen Freund allein. Ich begann, vorsichtig seine Schubladen zu öffnen und zu säubern. Schublade Nummer eins bis elf waren leer, bis auf ein paar Staubkrümel befand sich nichts darin. In Schublade Nummer zwölf fand ich einen verschlossenen Brief, der von einer Frau Unterholzer an einen gewissen Herrn Oberberger gerichtet war. Beim Öffnen des Briefes kollerte ein silberner Ring in meine Hand. Ich legte ihn zurück in die Schublade, in der der alte Herr sein Geheimnis bewahrt hatte. Dann begann ich, mich in das Leben der anderen einzumischen. Ich las die Zeilen, die Frau Unterholzer an Herrn Oberberger vor über fünfzig Jahren geschrieben hatte.

Lieber Josef,

es fällt mir nicht leicht, dir diese Zeilen zu schreiben.

Du liebst mich, hast du gesagt. Und dass du mich heiraten willst. Ich habe so lange darüber nachgedacht, so viele Nächte wachgelegen, mich im Bett hin- und hergewälzt. Ich habe mir unser gemeinsames Leben ausgemalt und mir vorgestellt, Kinder mit dir zu haben. Mit dir zu verreisen, romantische Nächte mit dir zu verbringen und dir in schlechten Zeiten beizustehen. Ich habe es wirklich versucht, Josef, glaub mir. Doch es ist mir nicht gelungen. Ich kann es nicht, ich kann dich nicht heiraten. Noch nicht. Ich werde von hier weggehen und dir den Ring zurückschicken. Nenn mich einen Feigling, doch ich bringe den Mut nicht auf, ihn dir persönlich wieder zu geben. Wer weiß, vielleicht führt uns das Schicksal ja doch noch einmal zusammen.

In Liebe, deine Martha. Ich werde dich nie vergessen.

 

Ich musste mich setzen. Ich nahm den Ring aus der Schublade und wärmte ihn mit meiner Hand. Er war nie getragen worden. Martha Unterholzer hatte ihn mit dem Brief in den Sekretär gelegt und dann nie versendet. Was war aus ihr geworden, und was aus Josef Oberberger? War sie einfach abgereist und hatte ihn unwissend verlassen? War Josef nun genauso einsam wie dieser alte Sekretär? Wer hatte seine Tränen getrocknet? Oder hatte das Schicksal sie doch noch einmal zusammengeführt, so wie Martha es prophezeit hatte?

 

Teil III

Herrn Oberbergers damalige Adresse zu finden, war einfach, sie stand auf dem Brief. Normalerweise bin ich kein besonders spontaner Mensch, ich lebe ein geregeltes Leben mit festen Uhrzeiten, doch an diesem Tag verließ ich um Punkt elf Uhr das Geschäft, um Herrn Oberberger oder Frau Unterholzer zu finden. Ich wollte sie nicht überrumpeln, doch ich musste wissen, ob die beiden wieder zueinander gefunden hatten oder nicht. Ihr Schicksal, das Leben zweier wildfremder Menschen, ließ mir plötzlich keine Ruhe mehr.

Keine dreißig Minuten später befand ich mich vor einem wunderschönen, kleinen Haus mit Garten am Rand von Sinich. Der Regen hatte aufgehört und die Sommerhitze kehrte dampfend zurück. Das Gartentor war verschlossen, die Fensterläden ebenso. Ich suchte nach einem Klingelschild, doch der Josef Oberbergers Name stand nicht darauf. Er wohnte nicht mehr hier. Ich betrachtete die hohen, glänzenden Rosenstöcke, strich vorsichtig über eine Blüte und setzte mich zurück ins Auto. Ich betrachtete kurz mein enttäuschtes Gesicht im Rückspiegel. Was ging mich das Schicksal der beiden eigentlich an, rügte ich mich und fuhr weiter zu Martha Unterholzers Adresse. Um zwölf Uhr fünfzehn musste ich feststellen, dass ihr Haus nicht einmal mehr existierte.

Es fiel mir schwer, unverrichteter Dinge ins Geschäft zurückzufahren. Ich fühlte mich nutzlos, dabei wartete mein Mann seit Stunden auf mich und meine Unterstützung. Ich hatte ihn einfach mit dem Laden und den Kunden allein gelassen, das hatte ich noch nie getan. Und dann auch noch, ohne ihm eine Erklärung für meine plötzliche Abwesenheit zu geben – wirklich nicht der Stil einer Elisabeth Federspiel. Nun gesellte sich zum Gefühl der Nutzlosigkeit auch noch das schlechte Gewissen. Es war kein guter Tag heute, wirklich nicht, beschloss ich und parkte meinen Wagen.

An diesem Abend kam ich nicht zur Ruhe. Ich versuchte, um die gewohnte Uhrzeit, also pünktlich um zehn Uhr fünfunddreißig, ins Bett zu gehen, doch der Schlaf wollte einfach nicht kommen. Stattdessen quälten mich Gedanken: der alte, weinende Sekretär, der jungfräuliche Ring, der Brief einer Frau, der verlassene Mann. Ich lauschte dem leisen Schnarchen meines Mannes und legte mir den Satz zurecht, mit dem ich ihm erklären wollte, dass der Sekretär nicht verkauft werden durfte, auch weil er und Ludwig ihn bereits wieder in den Laden geschoben hatten. Als ich nachts um eins noch immer nicht schlafen konnte, setzte ich mich an den Computer, um nach Martha und Josef zu suchen. Um drei Uhr und sieben Minuten gab ich mich geschlagen: die beiden existierten einfach nicht. Es handelte sich wohl um zwei zu gewöhnliche Menschen.

 

Teil IV

Ich verbrachte den Dienstag, den Mittwoch und auch den gesamten Donnerstag im Antiquitätengeschäft und gab mir größte Mühe, den alten Sekretär nicht zu verkaufen. Mein Mann hatte seinen Wert auf mehrere tausend Euro geschätzt und mir streng ins Gewissen geredet, ihn unbedingt zu verkaufen. Mein Mann und ich waren selten anderer Meinung, doch hierüber gerieten wir fast in Streit. Ich war beleidigt und sprach nur das Nötigste mit ihm. Den Kunden führte ich alle Stücke vor und ging nicht einmal auf den alten Herrn ein. Von meinem Mann erntete ich einen Strauß böser Blicke.

Am Donnerstagabend um sieben vor sieben betrat eine ältere Dame unseren Laden. Ihren Schoßhund hatte sie vor der Tür gelassen, er döste in der Abendsonne. Sie fächerte sich Luft zu und begrüßte mich und meinen Mann freundlich. Dann betrachtete sie ein Bild, dass schon seit Jahren an unserer Wand hing.

Sie fragte nach dem Künstler und ließ sich von mir beraten. Sie lauschte meinen Worten aufmerksam, dann plötzlich schien sie abgelenkt. Sie sah mich nicht mehr an, ihr Blick wanderte hinter meinen Rücken, dann füllten sich ihre alten Augen mit Tränen. Ich sah sie fragend an, sie fasste sich an ihr Herz und ich befürchtete schon, die Hitze habe ihr zugesetzt. Ich bat ihr einen Stuhl an, doch sie winkte ab. Mit langsamen Schritten ging sie auf den Sekretär zu und hielt sich an seiner Schreibfläche fest. Eine Träne landete auf seinem alten, dunklen Holz.

Sie erklärte mir mit gebrochener Stimme, dass sie diesen Tisch einst von ihren Großeltern geerbt hatte. Als sie sich als junge Frau entschlossen hatte, das Land für eine Weile zu verlassen, hatte sie ihn schweren Herzens und für teures Geld verkaufen müssen. Sie hatte um ihn getrauert, ihn so sehr geliebt. Es war, als hätte sie ein Stück ihres Herzens verkauft.

Ich reichte der alten Dame kurzerhand den Arm und bat sie, einen Kaffee mit mir zu trinken. Gleich neben dem Geschäft, in der kleinen Bar an der Promenade. Sie willigte ein und wir setzten uns an einen Tisch. Aus meiner Tasche holte ich den Ring und den Brief und entschuldigte mich bei ihr, dass ich das Briefgeheimnis verletzt hatte. Sie verzieh und dankte mir. Dann nahm sie den Ring an sich und streifte ihn über ihren linken Ringfinger. „Wie schön er glänzt“, sagte Martha und küsste ihn zärtlich.

Martha erzählte mir ihre Geschichte und von der Liebe zu Josef Oberberger. Das Schicksal hatte sie nicht mehr zusammengeführt. „Ich wünsche mir nur, dass er glücklich geworden ist“, sagte sie leise und trank ihren Kaffee. „Darf ich mich noch von dem alten Sekretär verabschieden?“, fragte sie. „Selbstverständlich“, antwortete ich und betrat mit Martha das Geschäft, in dem mein Mann gerade einem Kunden die Hand gab, um ihn zu verabschieden.

„Vielen Dank für Ihr Vertrauen, Herr Oberberger“, sagte mein Mann zu ihm, „Ich werde mich um die Möbel kümmern. Noch einmal mein herzliches Beileid. Sie werden sehen, alles wird gut werden.“

 

Manchmal liegt das Glück der Welt in einer Salatschüssel

Ein ganz normaler Freitagabend, wir kommen müde von der Arbeit nach Hause. Wir möchten uns nur noch von den Strapazen der Woche erholen und auf das sonnige Wochenende freuen. Der Frühling ist da, die kalten Tage sind vorbei, den Schneesturm und das Missverständnis am Rittner Horn haben wir längst vergessen. Endlich ist es warm, sonnig, morgen geht es los, wir werden an den See fahren und uns in die Sonne legen. Frühlingsgefühle, die Sonne wärmt unsere verliebten Seelen.

Ein Kuss auf die Stirn, dein Tag war nicht einfach, meiner auch nicht. Schwierigkeiten bei der Arbeit, mein Chef hat mir den Kopf gewaschen, dein Firmenauto wollte wieder einmal nicht anspringen. Und dann noch der Strafzettel, wegen ein paar Stundenkilometern über der Geschwindigkeitsgrenze. Es gibt schlimmeres, sage ich dir und erzähle dir von meinen Problemen mit der Versicherung und dass mir heute Morgen meine Lieblingstasse beim Abspülen zu Bruch gegangen ist.

Die Weltsorgen im Fernsehen vertreiben einen Moment lang unsere eigenen und machen sie fast unscheinbar. Großbritannien steckt in der Krise und kann sich nicht entscheiden, ob es dazugehören will oder nicht. Ein Mädchen schwänzt die Schule, protestiert gegen den Klimawandel und wird über Nacht zum Weltstar. Ich setze mich zu dir aufs Sofa und lehne meinen Kopf an deine breite Schulter. Du streichelst mich sanft mit deiner rauen Hand und schaltest die Weltprobleme mit dem roten Knopf auf der Fernbedienung aus. Plötzlich sind sie weg, wir sind wieder allein mit unseren eigenen.

Dein Magen knurrt, meiner auch. Hunger, kein Wunder, Frühstück und Mittagessen sind lange her und zwischendurch haben wir geschuftet und die Probleme anderer gelöst. Energieverbrauch auf höchster Ebene. Ich gehe an den Kühlschrank, leere ihn und stelle den Inhalt auf den Tisch, genau wie jeden Abend. Routine, einerseits, ein Festmahl, weil du dabei bist. Allein essen ist nicht schön, ich höre lieber dein leises Schmatzen als mein eigenes.

Wir essen gerne Salat, sind genügsam wie zwei Häschen. Mein Haushalt ist spartanisch, ich gebe mein Geld lieber für vernünftige Dinge wie Kleider und Schuhe aus. Ich habe einen Plastikbehälter, in den Salat für zwei hineinpasst. Das Ding ist alt und ein wenig unansehnlich, merke ich und spüle ihn noch einmal aus, bevor ich die grünen Blätter hineingebe.

„Vielleicht wäre eine Salatschüssel ja doch besser“, murmele ich vor mich hin.

„Ich habe doch damals extra eine für dich gekauft“, antwortest du und küsst mich beim Tomatenschneiden.

„Ich dachte, die war für dich“, sage ich und übertreibe es mit dem Salz.

„Nein, ich hatte sie für dich mitgenommen, weißt du noch, als wir zum ersten Mal miteinander eingekauft haben?“, erklärst du mir und stibitzt eine Olive aus der Plastikschüssel.

„Die aus dem schönen Glas, die so teuer war? Meinst du die? Und ich habe immer gedacht, dass du deinen Haushalt damit aufwerten wolltest… du hast mir nie gesagt, dass sie für mich ist…“

Auf einmal verschwinden sie, die kleinen und großen Probleme um uns herum. Wen kümmern schon der Brexit und der schwierige Chef, der Klimawandel und ein Strafzettel, wenn er das Glück der Welt in einer Salatschüssel wiederfindet?

Woran denkst du?

Ich kenne dich schon eine Weile, doch längst nicht lange. Du bist mir nicht mehr fremd, die Vertrautheit ist bereits da. Sie hat sich wie eine weiche Decke auf uns gelegt, wir wärmen uns an ihr, Nacht für Nacht, Tag für Tag.

Manchmal glaube ich, deinem Blick Worte zu entnehmen, ohne dass du sie aussprechen musst. Und doch frage ich dich, was du denkst, schließlich könnte ich mich ja irren und deinen Blick falsch deuten. Noch selten habe ich deinen Gedanken erraten.

Du überraschst mich, immer und immer wieder. Manchmal glaube ich, dich zu kennen; dann machst du mir plötzlich ein unerwartetes Geschenk: eine liebevolle Geste, ein sanftes Wort, eine zärtliche Berührung. Ich kann mich nicht an dich gewöhnen. Wenn du zu mir kommst, kribbelt es im Magen. Wenn du bei mir bist, füllt sich die Leere. Wenn du gehst, entsteht Sehnsucht. Wenn du weg bist, sind die Tage und Nächte zu lang.

Oft habe ich Angst. Die Vorstellung, ohne dich zu sein, ist verheerend. Ich kann es mir nicht vorstellen, ein Leben ohne dich. Ich klopfe auf den leeren Stuhl und biete ihn dir an, den Platz in meinem Leben. Komm her, sage ich, bleib bei mir. Wenn du möchtest, für immer.

Du sitzt neben mir, im Restaurant, und legst deine große Hand auf meine. Sie verschwindet unter deiner. Deine Hand ist wie ein Zuhause, du schützt und wärmst mich. Ich lächle dich an, du antwortest mit strahlenden Augen. Woran du wohl gerade denkst?, frage ich mich und dich.

An dich, sagst du und streichelst mir sanft über die Wange. Sofort werden meine Finger kalt, ich nehme deine Hand und drücke sie. Lass mich nie wieder los, flehe ich, ohne es auszusprechen. Nimm mir dieses Glück nie wieder weg.

Am Nebentisch sitzt ein altes Paar. Sie sprechen nicht miteinander. Die Wangen der Frau sind eingefallen, ihr graues Haar ist zu einem strengen Zopf geflochten. Ihr Mann blickt starr auf seinen roten Wein, trinkt aber nicht. Gemeinsam sind sie sicher über hundertsechzig Jahre alt, was für eine lange Zeit. Eine starke Liebe, unsere steckt noch in den Kinderschuhen.

Ich küsse dich und lasse, wenn auch ungern, von dir ab. Ich denke an den heutigen Tag, unseren Ausflug in der Wintersonne, an diese wundervollen Stunden, die wir gemeinsam verbracht haben. Ich denke an unsere Worte, an unser Lachen, an die stillen Momente im Schnee. Dann betrachte ich noch einmal die beiden alten Leute am Nebentisch und frage mich, ob auch wir gemeinsam über hundertsechzig Jahre alt werden. Plötzlich regt sich das Gesicht der alten Frau, sie dreht vorsichtig den Kopf zu ihrem Mann, legt ihre faltige Hand auf seine und fragt so leise, dass ich sie kaum verstehen kann: Woran denkst du gerade? Er lächelt, hebt seine Hand und streicht seiner Frau über die Wange. An dich, antwortet er, woran denn sonst?

Es ist doch nur eine Nacht

Es ist doch nur eine Nacht, denke ich, drehe mich noch einmal zu dir um und lächle. Deine Augen verengen sich, blitzen in der Abendsonne, ein letzter Kuss, dann steigst du in dein Auto. Ich sehe dir nach, wie du davonfährst, abbiegst, dich von mir entfernst. Nur eine Nacht, nur ein paar Stunden, die können mir doch nichts anhaben. Du hast zu tun, ich habe zu tun, man soll sich schließlich nicht aneinander ketten, man muss sich auch mal gehen lassen. Natürlich lasse ich dich gehen, schließlich besitze ich dich nicht. Ich liebe dich, und was man liebt, lässt man frei. Freiheit tut gut, unser Vertrauen ineinander erlaubt uns diese Freiheit. Liebe schenken, Freiheit schenken, das haben wir uns versprochen.

Es tut gut, den anderen gehen zu lassen und selbst gehen zu dürfen. Eigene Wege einschlagen zu dürfen, sich entfalten zu dürfen und diese Erfahrung dann miteinander zu teilen. Die Liebe ist kein Gefängnis, sie soll uns bereichern, nicht einengen. Wer liebt, soll vor Glück schreien wollen, auch wenn man es dann nur ganz leise tut. Oft entfährt mir so ein kleiner Glücksschrei, wenn ich dich spüre, dich schmecke, oder einfach nur an dich denke.

Ich bin stehen geblieben, du bist längst nicht mehr auf meiner Straße. Ich stehe am Straßenrand, Autos hupen und ihre Fahrer fragen mit Gesten, ob ich nicht endlich über den Zebrastreifen gehen will. Nein, ich schüttle den Kopf, ich werde dich nicht verfolgen. Ich lasse dich gehen und warte, bis du zurückkommst. Schließlich ist es nur eine Nacht.

Ich wende mich ab und gehe nach Hause. Ich schließe die Wohnungstür auf, dein Geruch, unser Geruch empfängt mich. Ich sehe deine Kleidung auf meinem Bett, deine Tasse mit dem Kaffee von heute Morgen steht in der Spüle. Deine Spuren sind hier, die Krümel vom Frühstück, die Kissen mit deinem Kopfabdruck auf dem Sofa, deine Schuhe in der Ecke. Deine Zahnbürste, der Geruch nach deinem Duschgel im Bad. Es ist nur eine Nacht, sage ich leise und ziehe dein T-Shirt an, obwohl ich darin versinke.

Ich liege im Bett und denke an dich. Ich denke an unsere gemeinsame Vergangenheit, an unsere Zukunft. An den nächsten Tag, wenn du zurückkommst, nach dieser einen Nacht. Ich drehe mich zu der Seite, auf der du immer schläfst. Ich vermisse deinen Atem, die Wärme deines Körpers. Ich vermisse deine Küsse, mit denen du mich mitten in der Nacht aus dem Tiefschlaf reißt. Es ist doch nur eine Nacht, wiederhole ich immer und immer wieder, bis ich einschlafe. Plötzlich weckt mich ein Geräusch. Es ist Mitternacht, jemand klingelt an meiner Tür.

Selbst eine einzige Nacht kann zu lang sein.

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