Das Geheimnis des alten Sekretärs

Teil I

Heute Morgen stand der Sekretär vor meinem Geschäft, vom heftigen Regen ganz nass und verdreckt. Laub klebte an seinen Beinen, auch ein Zigarettenstummel. Alt war er, er stammte sicher aus dem neunzehnten Jahrhundert. Aus Eichenholz, dunkel, schwer, mit schwarzem Schmiedeeisen verziert, zwölf Schubladen, zehn über der Schreibfläche und zwei darunter. Aus edlem Holz gefertigt, er hatte nur ein paar Scharten in seinem langen Leben davongetragen.

Zunächst war ich bestürzt. Statt unser Geschäft zu kontaktieren hatte man den alten Herrn einfach vor unserer Ladentür abgestellt und wie einen lästigen Hund ausgesetzt. Wer tat so etwas? Stand denn nicht groß an der Ladentür unser Name „Antiquitäten Federspiel – Abholservice“? Warum überließ man uns nicht einfach die Arbeit und schonte damit die guten, alten Dinge? Ich streichelte kurz über sein nasses Holz und sah mich um, doch ich konnte keinen verdächtigen Lieferwagen entdecken. Auch stand an der Passeierpromenade in Meran keine einzige Person, die neugierig oder verschämt zu unserem Antiquitätenladen herüberlugte

. Mir fiel auf, dass ich mit dem alten Sekretär völlig allein war. Es passierte selten, dass morgens um sieben Uhr kein Mensch über die Promenade lief. Ich betrachtete den alten Herrn noch einmal und suchte nach einem Taschentuch, um ihm die Regentropfen von den Schublädchen zu wischen. Es war, als würde ich seine Tränen wegtupfen, die er in diesen einsamen Stunden vor unserem Geschäft geweint hatte. Als ich mich wieder umdrehte, war die Straße plötzlich belebt. Vielleicht war die Zeit einfach nur einen Moment lang für uns beide stehengeblieben.

Ich musste mich an ihm vorbeizwängen, um die Ladentür aufschließen zu können. „Haben Sie keine Angst“, sagte ich in Gedanken zu ihm, „Gleich bringe ich Sie ins Trockene.“ Dann rief ich meinen Mann an, um ihm von meinem unverhofften Gast zu berichten. Er sollte Ludwig, unseren Sohn schicken, damit er mir dabei half, den Sekretär ins Geschäft zu wuchten. Mein Mann versicherte mir, dass sie in weniger als einer halben Stunde bei mir sein würden. Ich beschloss, in dieser Zeit bei ihm zu bleiben und ihn so gut wie möglich zu trocknen. Dann, sobald er hinten im Lager stehen würde, wollte ich sein Holz mit Wachs behandeln und ihn polieren, damit er bald wieder wie neu glänzte. Und dann versprach ich ihm, ihn nicht zu verkaufen, auch wenn mein Mann damit sicher nicht einverstanden sein würde.

Zweiundzwanzig Minuten verbrachte ich mit dem alten Sekretär und verbrauchte fünf Lappen, bis er endlich nicht mehr aus seinen Falten tropfte. Ich stellte mir dabei vor, wie sein Leben verlaufen war. Wie oft er vererbt worden war, in wie vielen Kellern er gestanden hatte. Wie oft jemand an ihm gesessen hatte, um zu schreiben. Ob Kinder an ihm gespielt hatten. Sein Leben lief an mir vorbei wie in einem kitschigen Schwarzweißfilm. Immer wieder streichelte ich über seine Ecken und die eisernen Scharniere und merkte nicht, wie ich mich innerhalb kürzester Zeit in ein zweihundert Jahre altes Möbelstück verliebt hatte.

 

Teil II

Ludwig und Gerhard fluchten leise und ächzten laut, als sie den schweren Sekretär ins Lager brachten. Gerhard fragte mich aus, ob ich denn wirklich niemanden gesehen hatte und von wem der Tisch denn nun stammen könne. Ich beteuerte meine Unwissenheit und bat ihn, sich heute Vormittag um die Kunden zu kümmern, ich würde ihn auf Vordermann bringen. Und ihn nicht verkaufen, doch diesen Gedanken sprach ich nicht aus. Gerhard kannte mich gut genug, um zu verstehen, dass dieser Sekretär bereits seit der ersten gemeinsamen Minute mir gehörte. Gerne, Elisabeth, sagte er, gab mir ein Küsschen und ließ mich mit meinem neuen Freund allein. Ich begann, vorsichtig seine Schubladen zu öffnen und zu säubern. Schublade Nummer eins bis elf waren leer, bis auf ein paar Staubkrümel befand sich nichts darin. In Schublade Nummer zwölf fand ich einen verschlossenen Brief, der von einer Frau Unterholzer an einen gewissen Herrn Oberberger gerichtet war. Beim Öffnen des Briefes kollerte ein silberner Ring in meine Hand. Ich legte ihn zurück in die Schublade, in der der alte Herr sein Geheimnis bewahrt hatte. Dann begann ich, mich in das Leben der anderen einzumischen. Ich las die Zeilen, die Frau Unterholzer an Herrn Oberberger vor über fünfzig Jahren geschrieben hatte.

Lieber Josef,

es fällt mir nicht leicht, dir diese Zeilen zu schreiben.

Du liebst mich, hast du gesagt. Und dass du mich heiraten willst. Ich habe so lange darüber nachgedacht, so viele Nächte wachgelegen, mich im Bett hin- und hergewälzt. Ich habe mir unser gemeinsames Leben ausgemalt und mir vorgestellt, Kinder mit dir zu haben. Mit dir zu verreisen, romantische Nächte mit dir zu verbringen und dir in schlechten Zeiten beizustehen. Ich habe es wirklich versucht, Josef, glaub mir. Doch es ist mir nicht gelungen. Ich kann es nicht, ich kann dich nicht heiraten. Noch nicht. Ich werde von hier weggehen und dir den Ring zurückschicken. Nenn mich einen Feigling, doch ich bringe den Mut nicht auf, ihn dir persönlich wieder zu geben. Wer weiß, vielleicht führt uns das Schicksal ja doch noch einmal zusammen.

In Liebe, deine Martha. Ich werde dich nie vergessen.

 

Ich musste mich setzen. Ich nahm den Ring aus der Schublade und wärmte ihn mit meiner Hand. Er war nie getragen worden. Martha Unterholzer hatte ihn mit dem Brief in den Sekretär gelegt und dann nie versendet. Was war aus ihr geworden, und was aus Josef Oberberger? War sie einfach abgereist und hatte ihn unwissend verlassen? War Josef nun genauso einsam wie dieser alte Sekretär? Wer hatte seine Tränen getrocknet? Oder hatte das Schicksal sie doch noch einmal zusammengeführt, so wie Martha es prophezeit hatte?

 

Teil III

Herrn Oberbergers damalige Adresse zu finden, war einfach, sie stand auf dem Brief. Normalerweise bin ich kein besonders spontaner Mensch, ich lebe ein geregeltes Leben mit festen Uhrzeiten, doch an diesem Tag verließ ich um Punkt elf Uhr das Geschäft, um Herrn Oberberger oder Frau Unterholzer zu finden. Ich wollte sie nicht überrumpeln, doch ich musste wissen, ob die beiden wieder zueinander gefunden hatten oder nicht. Ihr Schicksal, das Leben zweier wildfremder Menschen, ließ mir plötzlich keine Ruhe mehr.

Keine dreißig Minuten später befand ich mich vor einem wunderschönen, kleinen Haus mit Garten am Rand von Sinich. Der Regen hatte aufgehört und die Sommerhitze kehrte dampfend zurück. Das Gartentor war verschlossen, die Fensterläden ebenso. Ich suchte nach einem Klingelschild, doch der Josef Oberbergers Name stand nicht darauf. Er wohnte nicht mehr hier. Ich betrachtete die hohen, glänzenden Rosenstöcke, strich vorsichtig über eine Blüte und setzte mich zurück ins Auto. Ich betrachtete kurz mein enttäuschtes Gesicht im Rückspiegel. Was ging mich das Schicksal der beiden eigentlich an, rügte ich mich und fuhr weiter zu Martha Unterholzers Adresse. Um zwölf Uhr fünfzehn musste ich feststellen, dass ihr Haus nicht einmal mehr existierte.

Es fiel mir schwer, unverrichteter Dinge ins Geschäft zurückzufahren. Ich fühlte mich nutzlos, dabei wartete mein Mann seit Stunden auf mich und meine Unterstützung. Ich hatte ihn einfach mit dem Laden und den Kunden allein gelassen, das hatte ich noch nie getan. Und dann auch noch, ohne ihm eine Erklärung für meine plötzliche Abwesenheit zu geben – wirklich nicht der Stil einer Elisabeth Federspiel. Nun gesellte sich zum Gefühl der Nutzlosigkeit auch noch das schlechte Gewissen. Es war kein guter Tag heute, wirklich nicht, beschloss ich und parkte meinen Wagen.

An diesem Abend kam ich nicht zur Ruhe. Ich versuchte, um die gewohnte Uhrzeit, also pünktlich um zehn Uhr fünfunddreißig, ins Bett zu gehen, doch der Schlaf wollte einfach nicht kommen. Stattdessen quälten mich Gedanken: der alte, weinende Sekretär, der jungfräuliche Ring, der Brief einer Frau, der verlassene Mann. Ich lauschte dem leisen Schnarchen meines Mannes und legte mir den Satz zurecht, mit dem ich ihm erklären wollte, dass der Sekretär nicht verkauft werden durfte, auch weil er und Ludwig ihn bereits wieder in den Laden geschoben hatten. Als ich nachts um eins noch immer nicht schlafen konnte, setzte ich mich an den Computer, um nach Martha und Josef zu suchen. Um drei Uhr und sieben Minuten gab ich mich geschlagen: die beiden existierten einfach nicht. Es handelte sich wohl um zwei zu gewöhnliche Menschen.

 

Teil IV

Ich verbrachte den Dienstag, den Mittwoch und auch den gesamten Donnerstag im Antiquitätengeschäft und gab mir größte Mühe, den alten Sekretär nicht zu verkaufen. Mein Mann hatte seinen Wert auf mehrere tausend Euro geschätzt und mir streng ins Gewissen geredet, ihn unbedingt zu verkaufen. Mein Mann und ich waren selten anderer Meinung, doch hierüber gerieten wir fast in Streit. Ich war beleidigt und sprach nur das Nötigste mit ihm. Den Kunden führte ich alle Stücke vor und ging nicht einmal auf den alten Herrn ein. Von meinem Mann erntete ich einen Strauß böser Blicke.

Am Donnerstagabend um sieben vor sieben betrat eine ältere Dame unseren Laden. Ihren Schoßhund hatte sie vor der Tür gelassen, er döste in der Abendsonne. Sie fächerte sich Luft zu und begrüßte mich und meinen Mann freundlich. Dann betrachtete sie ein Bild, dass schon seit Jahren an unserer Wand hing.

Sie fragte nach dem Künstler und ließ sich von mir beraten. Sie lauschte meinen Worten aufmerksam, dann plötzlich schien sie abgelenkt. Sie sah mich nicht mehr an, ihr Blick wanderte hinter meinen Rücken, dann füllten sich ihre alten Augen mit Tränen. Ich sah sie fragend an, sie fasste sich an ihr Herz und ich befürchtete schon, die Hitze habe ihr zugesetzt. Ich bat ihr einen Stuhl an, doch sie winkte ab. Mit langsamen Schritten ging sie auf den Sekretär zu und hielt sich an seiner Schreibfläche fest. Eine Träne landete auf seinem alten, dunklen Holz.

Sie erklärte mir mit gebrochener Stimme, dass sie diesen Tisch einst von ihren Großeltern geerbt hatte. Als sie sich als junge Frau entschlossen hatte, das Land für eine Weile zu verlassen, hatte sie ihn schweren Herzens und für teures Geld verkaufen müssen. Sie hatte um ihn getrauert, ihn so sehr geliebt. Es war, als hätte sie ein Stück ihres Herzens verkauft.

Ich reichte der alten Dame kurzerhand den Arm und bat sie, einen Kaffee mit mir zu trinken. Gleich neben dem Geschäft, in der kleinen Bar an der Promenade. Sie willigte ein und wir setzten uns an einen Tisch. Aus meiner Tasche holte ich den Ring und den Brief und entschuldigte mich bei ihr, dass ich das Briefgeheimnis verletzt hatte. Sie verzieh und dankte mir. Dann nahm sie den Ring an sich und streifte ihn über ihren linken Ringfinger. „Wie schön er glänzt“, sagte Martha und küsste ihn zärtlich.

Martha erzählte mir ihre Geschichte und von der Liebe zu Josef Oberberger. Das Schicksal hatte sie nicht mehr zusammengeführt. „Ich wünsche mir nur, dass er glücklich geworden ist“, sagte sie leise und trank ihren Kaffee. „Darf ich mich noch von dem alten Sekretär verabschieden?“, fragte sie. „Selbstverständlich“, antwortete ich und betrat mit Martha das Geschäft, in dem mein Mann gerade einem Kunden die Hand gab, um ihn zu verabschieden.

„Vielen Dank für Ihr Vertrauen, Herr Oberberger“, sagte mein Mann zu ihm, „Ich werde mich um die Möbel kümmern. Noch einmal mein herzliches Beileid. Sie werden sehen, alles wird gut werden.“

 

Paul und die Sache mit der ewigen Liebe

14. Juli

Guten Abend.

Ich versuche gerade, zum ersten Mal in meinem Leben ein Tagebuch mit sinnvollen Worten zu füllen. Man bedenke, dass ich inzwischen fünfundvierzig Jahre alt bin und außer Steuererklärungen und Officemails in meinem bisherigen Leben vielleicht zehn Postkarten geschrieben habe. Es ist nicht einfach, plötzlich über persönliche Dinge zu schreiben, mal abgesehen von „Schönes Wetter, es geht mir gut, Grüße und bis bald, dein Paul.“. Ja, ich muss zugeben, ich tue mich gerade richtig schwer damit.

Vielleicht wäre es sinnvoll, mich erst einmal vorzustellen. Ich heiße Paul. Ich wohne und arbeite in einer kleinen Stadt in Südtirol, in der jeder jeden kennt. Und in der jeder alles von jedem weiß, egal, ob es denjenigen etwas angeht oder nicht. Ich arbeite als Steuerberater. Gähn, werden Sie sagen, was für ein Langweiler. Ein wahrer Sesselfurzer, was will der mir schon von seinem Leben zu erzählen haben. Warten Sie es einfach ab.

Ich schreibe ein Tagebuch und mir ist durchaus bewusst, dass die förmliche Anrede in diesem Rahmen nicht unbedingt üblich ist. Aber wen soll ich denn anschreiben, das Tagebuch selbst? Das ist doch kindisch. Ein Buch kann man schreiben, ein Buch kann man lesen, aber man kann nicht mit ihm sprechen. Oder gar Gefühle für ein Buch entwickeln. „Sie werden dieses Buch lieben“ – diese Aussage kann ich nicht ausstehen. Man kann ein Buch gut finden, es kann Emotionen in uns hervorrufen, alles schön und gut. Aber gegenüber einem Buch von Liebe sprechen? Nein. Ich kann einen Menschen lieben. Ich kann mich selbst lieben. Ich kann im weitesten Sinne auch ein Haustier lieben. Aber ich kann keine Ansammlung von Wörtern auf unzähligen Blättern oder gar eine Pdf-Datei lieben. Das ginge zu weit.

Ich schweife ab, mein ewiges Manko manifestiert sich bereits auf der ersten Seite dieses Tagebuchs. Ich bitte um Pardon. Wie gesagt, ich heiße Paul, ich bin Steuerberater, ich wohne in Südtirol und bin eigentlich ein eher langweiliger Typ. Mit einer eher langweiligen Ehefrau, die seit Monaten nicht mehr viel von mir wissen will. Und ich bin ein langweiliger Typ mit einer aufregenden Geliebten, die eine ganze Menge von mir wissen will. Diese Geliebte ist eine Augenweide, die schönste Frau, die weichste Frau, die wohlduftendste Frau, die süßeste Frau, die mir in meinem Leben je begegnet ist. Naja, abgesehen von der Kinderfrau meines kleinen Bruders, in die ich mich mit vierzehn Jahren verknallt habe. Aber die hat meine Liebe nie erwidert. Trotz der Schokopralinen, die ich ihr mit meinem Taschengeld im Supermarkt gekauft hatte.

Meine Frau heißt Klara. Meine Geliebte heißt Bianca. Und ich muss mich nun wohl zwischen der Transparenten und der Weißen entscheiden. Glauben Sie mir, der Weg zu dieser Entscheidung ist ziemlich holprig. Ich danke Ihnen, dass Sie ihn mit mir beschreiten. Natürlich können Sie zwischendurch abspringen, wer wäre ich denn, Sie aufzuhalten? Sie können mich natürlich auch sofort zum Teufel schicken, ich könnte es Ihnen nicht verdenken. Oder Sie kommen eben mit und lernen mich und meine beiden Frauen kennen. Transparent oder Weiß, was sagen Sie?

 

16.Juli

Guten Abend.

Sind Sie noch wach oder schlafen Sie schon? Ich frage nur, weil es bereits nach dreiundzwanzig Uhr ist, da könnte es natürlich sein, dass Morpheus Sie bereits in seinen Armen wiegt. Ich bin noch wach, wie Sie sehen, und ich werde heute Nacht vermutlich auch nur wenig schlafen, falls ich überhaupt einschlafen sollte. Das liegt einerseits an der Sommerhitze, andererseits an der Schnake, die ich nicht erwische und drittens an dem unbequemen Sofa, das nun mein Schlafplatz ist. Klara hat mich nämlich aus dem Ehebett verbannt.

Wir waren heute Abend gemeinsam essen. Sie schöpfen nun bestimmt Hoffnung, dass ich mir und Klara eine neue Chance geben möchte, doch Sie irren sich. Darum ging es nicht. Ich wollte nur eines: Klaras Aufmerksamkeit. Und zwar ihre ganze Aufmerksamkeit ohne störende Freundinnen, ohne den lästigen Yogakurs, den sie seit Kurzem wie vernarrt besucht und ohne ihre Diätpläne. Sie hat nämlich sonst nicht viel im Kopf. Naja, von ihrer Arbeit einmal abgesehen. Jedenfalls habe ich meine Frau in ein nobles Restaurant in Brixen ausgeführt und konnte tatsächlich einige klärende Worte mit ihr wechseln. Ich hatte mir natürlich erhofft, dass sie mit Verständnis oder wenigstens sachlich reagieren würde, doch dem war nicht so.

Ich sagte Klara, dass ich die Scheidung wolle. Klara sagte zunächst nichts, sie starrte mich einfach nur an. Dann fragte sie mich, ob ich spinne.

„Nein“, sagte ich, „ich spinne nicht. Ich möchte, dass wir uns scheiden lassen. Es ist aus“, sagte ich.

Klara nahm ihr Glas mit dem teuren Lagrein und spülte ihn in zwei kräftigen Schlucken herunter. Sie sprach nicht mit mir, sie aß einfach nur weiter, sie reagierte völlig mechanisch. Fast wie ein Computer, dessen Software nicht reagiert, weil die Festplatte überlastet ist. Ich wartete darauf, dass sie Fragen stellte. Wollte sie denn nicht einmal wissen, warum ich mich scheiden lassen wollte? Ich war ihr also tatsächlich egal, war meine Schlussfolgerung. Ich war erleichtert und enttäuscht und aß mein Steak zu Ende. Es war so zäh wie meine Ehe.

Als wir schweigend nach Hause kamen und ich mich neben meine Nochehefrau legen wollte, sagte sie nur, geh weg.

„Wohin?“ fragte ich sie überrascht.

„Das ist mir egal. Aber bleib nicht bei mir. Dein Platz ist nun nicht mehr bei mir. Schließlich willst du mich ja nicht mehr.“

Ich erhob mich und nahm meinen neuen Schlafplatz auf dem Sofa ein. Das Sofa vermittelt mir ein seltsames Gefühl: Freiheit. Die Freiheit, zu gehen. Die Freiheit, meine Frau Klara zu verlassen und zu Bianca zu gehen. Von der durchsichtigen Frau zu der weißen Frau. Ist ihnen eigentlich schon einmal der gehörige Unterschied zwischen Transparenz und Weiß aufgefallen?

 

23. Juli

Guten Abend.

Klara hat drei Tage und Nächte lang nicht mit mir gesprochen. Sie hat mich nicht einmal mehr angesehen. Gestern Abend hat sie mir in den paar Minuten, die wir miteinander in der Küche verbrachten, automatisch den Korkenzieher gereicht und mir die Gläser in die Hand gedrückt. Wortlos, aber immerhin eine gewohnte Geste, für die ich ihr dankbar war. Ich war ungeschickt und habe eines der Gläser auf den Küchenboden fallen lassen, es zersprang natürlich in tausend kleine Scherben. Ich wollte sie mit der bloßen Hand auflesen und schnitt mich. Klara beugte sich mit einem Tuch zu mir herunter und saugte das Blut von meinem rechten Zeigefinger. Plötzlich war da diese Wärme ihres Mundes an meinem Finger. Ich zuckte erst zusammen, nahm ihn aber nicht weg. Ich wünschte mir plötzlich, sie würde meine Fingerspitze nicht mehr loslassen. Der Moment war schnell vorbei, sie nahm ein Pflaster aus der Schublade und verband meinen Finger. Dann aßen wir wortlos. Später gingen wir schlafen, sie im Schlafzimmer, ich auf dem Sofa. Ich hätte das Pflaster längst abnehmen können, aber ich wollte nicht, obwohl es vom häufigen Händewaschen und den alltäglichen Berührungen mehr als hässlich geworden ist.

Als ich heute Abend nach Hause kam, war Klara nicht da. Ich suchte nach ihr, hatte schon den Verdacht, sie sei heimlich zu einer ihrer Freundinnen gezogen, doch ihre Sachen waren alle noch hier. Nur sie nicht. Die Wohnung war leer, warm, kalt. Ich setzte mich vor den Fernseher und schaute einen Krimi an. Ich wartete, ich konnte nicht schlafen. Ich wollte mich auf den Film konzentrieren, aber ich konzentrierte mich nur auf das schmutzige Pflaster an meinem rechten Zeigefinger. Gegen zwei Uhr nachts kam Klara dann nach Hause. Sie war bester Laune und stark betrunken. Ich brachte sie ins Bett, zog ihr die Schuhe aus und deckte sie zu. Sie sprach noch immer nicht mit mir, aber das war egal. Ich war einfach nur froh, dass sie wohlbehalten wieder nach Hause gekommen war.

Bianca habe ich seit einigen Tagen nicht mehr gesehen. Ich habe ihr auch nicht geschrieben, sie ist derzeit bei einem Kurs in Mailand, da will ich nicht stören. Ich habe auch keine Lust, sie jetzt mit meiner neuen, seltsamen Freiheit zu überrumpeln. Ich muss mich erstmal selbst mit ihr zurechtfinden. Es ist gar nicht so einfach, sie zu genießen, glauben Sie mir.

Ich muss ihnen etwas gestehen. Ich habe heute Abend zwar den Krimi im Fernsehen laufen lassen, ich habe ihn aber nicht im Geringsten verfolgt. Ich habe mir stattdessen das Fotoalbum unserer Hochzeit angesehen. Ein Album voller glücklicher Gesichter. Ich musste an den Priester denken, vor dem wir uns die ewige Liebe versprochen hatten. Aber Sie wissen ja, es ist eben so eine Sache mit der ewigen Liebe.

 

31. Juli

Guten Abend.

Nein, es ist kein guter Abend, für mich zumindest nicht. Ich war nach der Arbeit noch ein wenig im Zentrum. Mir war nach einem Eis und einem kleinen Spaziergang. Ich ging durch Brixens kleine Lauben, betrachtete die Auslagen in den Schaufenstern und aß ein Vanilleeis. Dann schlenderte ich über den Domplatz und suchte Schatten im Kreuzgang. Da sah ich sie: Klara. Sie war nicht allein, sie spazierte vor mir Hand in Hand mit einem Mann. Ich war außer mir vor Wut. Ich rannte zu den beiden und nahm Klara bei der Schulter, wirbelte sie zu mir herum, sie schrie. Dann sah ich in ihr Gesicht und erkannte, dass die Frau nicht Klara war. Ich entschuldigte mich tausendmal bei dem zu Tode erschrockenen Pärchen und suchte das Weite. Ich wusste nicht wohin mit meiner Scham und meiner Eifersucht, da rannte ich einfach in den Brixner Dom und suchte mir ein stilles Eckchen. Ich konnte mich nicht mehr zusammenreißen und weinte wie ein Schlosshund. Die Touristen sahen mich an wie einen Verrückten, ich wandte mich ab und suchte Schutz in einem der Beichtstühle. Der Pfarrer hatte es wohl bemerkt und wollte mir prompt die Beichte abnehmen. Er fragte, was ich zu beichten habe.

Ich schluchzte: „Dass ich meine Frau liebe.“

Er tröstete mich, in dem er sagte, dass Gott es mir nachsehen würde.

 

Wie ein geprügelter Hund ging ich nach Hause. Klara war wie immer noch nicht da. Wo sie nur wieder steckte? Auf meinem Handy fand ich fünfzehn unbeantwortete Anrufe von Bianca und einige wütende Nachrichten. Ich antwortete ihr, ohne nachzudenken, dass unsere Affäre mit dem heutigen Tage zu Ende sei. Sie hat mir nicht geantwortet.

Einige Stunden später kam Klara nach Hause. Als sich die Tür öffnete, sprang ich vom Sofa, rannte zu ihr und schloss sie in meine Arme. Sie war völlig verdattert und versuchte, sich loszumachen. Ich ließ sie nicht los, ich konnte gar nicht genug von ihrem verschwitzten Hals bekommen. Nicht dass sie denken, ich hätte sonst etwas mit ihr gemacht. Nein, ich habe sie einfach nur gehalten und konnte sie nicht mehr loslassen.

Klara begann endlich wieder, mit mir zu reden. Sie sprach so viel, von den letzten Monaten, von den letzten Jahren, in denen wir uns so weit voneinander entfernt hatten. Sie erzählte mir von ihrem Yogakurs. Ich fragte sie, ob ihr der Yogalehrer gefiele. Sie lachte schallend und konnte gar nicht aufhören. Als sie sich beruhigt hatte, erklärte sie mir, dass sie die Lehrerin sei. Es war mir furchtbar peinlich. Ich drückte sie erneut an mich und entschuldigte mich für meine Abwesenheit, die ich ihr lange Zeit angelastet hatte. Was war ich nur für ein Narr.

Ich wünsche all denen, die bei mir geblieben sind, alles Gute für Ihre Ehe. Ich habe übrigens gehört, dass laut einer Statistik im letzten Jahr sehr viel weniger Ehen in Südtirol getrennt oder geschieden wurden. Klara, Bianca und mich hat es nie gegeben, aber vielleicht können wir diese Statistik ja noch ein wenig aufrecht erhalten.

 

Das kleine U – eine Emailgeschichte, die unter die Tastatur geht.

Das kleine U – Teil I

14.04.2018 15:52

Betreff: LöschUng Profil Anna Hertz

Sehr geehrte Damen Und Herren,

ich bitte Um die LöschUng des Profils von Anna Hertz (NUmmer 348).

Vielen Dank, mit freUndlichen Grüßen

Anna Hertz.

P.S.: Ich bitte Um zeitnahe BearbeitUng meiner Anfrage.

 

16.04.2018 10:29

Re: LöschUng Profil Anna Hertz

Sehr geehrte Frau Hertz,

vielen Dank für Ihre Anfrage. Wir bedauern, dass Sie das Profil löschen wollen. Wir hatten bereits mehrere Anfragen zu Ihrer Person. Sind Sie sicher?

Mit freundlichen Grüßen

Alex – Staff von http://www.ichliebedich.it

 

16.04.2018 11:15

Re: Re: LöschUng Profil Anna Hertz

GUten Tag, Alex,

ja, ich bin mir sicher. Ich möchte mich lieber doch nicht auf die SUche nach der großen Liebe machen, die Ihre AgentUr verspricht. GlaUben Sie mir, es ist besser so.

Noch einmal freUndliche Grüße

Anna Hertz

 

16.04.2018 13:20

Re: Re: LöschUng Profil Anna Hertz

Guten Tag, Anna.

Wenn Sie es so wünschen, werde ich Ihr Profil selbstverständlich löschen. Ich möchte Sie nur noch einmal darauf aufmerksam machen, dass in diesem Fall dennoch die Gebühren für das kommende Vierteljahr fällig werden. Sie könnten doch wenigstens diese Zeit noch nutzen, um sich ein wenig unter den Menschen umzuschauen, die so großes Interesse an Ihnen gezeigt haben. Ein Herr hat gefragt, ob man ein Treffen in der kommenden Woche arrangieren könnte. Es wäre selbstverständlich unverbindlich, er möchte nur mit Ihnen essen gehen. Bitte, Anna, überlegen Sie es sich noch einmal.

Mit freundlichen Grüßen

Alex – Staff von http://www.ichliebedich.it

 

16.04.2018 13:20

Re: Re: Re: LöschUng Profil Anna Hertz

Alex, Sie machen mich UngedUldig.

Ich will dieses Profil nicht mehr. Falls Sie sich weigern, es zU löschen, werde ich mich über Sie beschweren. TUn Sie es einfach. Die Gebühren sind mir egal.

  1. Hertz

 

17.04.2018 09:20

Re: Re: Re: Re: LöschUng Profil Anna Hertz

Schon gut, Anna. Ich wollte Sie nicht zu Ihrem Glück zwingen. Ich werde Ihr Profil hiermit löschen und nicht mehr weiterhelfen.

Nur eines noch: was ist mit Ihrem kleinen u los?

Mit freundlichen Grüßen

Alex – Staff von http://www.ichliebedich.it

 

17.04.2018 09:45

Re: Re: Re: Re: LöschUng Profil Anna Hertz

Danke, Alex. Für Ihre Hilfe Und Ihre Einsicht.

Meinem kleinen U geht es leider nicht besonders gUt. Immer, wenn ich es klein schreiben möchte, kommt es als großes U heraus. Stellen Sie sich vor, ich habe einen neUen CompUter gekaUft, Und dann so etwas! Ich bekomme so langsam eine richtige U-Krise! Und Sie haben ja keine VorstellUng, wie oft das kleine U in der deUtschen Sprache vorkommt! Es ist zUm verrückt werden!

Grüße von Anna.

 

17.04.2018 11:23

Re: Re: Re: Re: Re: Löschung Profil Anna Hertz

Nun, Anna, zumindest den Betreff habe ich jetzt ausgebessert. Bestimmt haben Sie ein Problem mit der Strg-Taste, das sich ganz einfach beheben lässt. Drücken Sie sie mehrmals hintereinander, dann wird sich ihr kleines großes U in ein niedliches ü-chen verwandeln. Versuchen Sie es einmal. Ansonsten werde ich ab sofort aus reiner Sympathie jedes U genauso großschreiben wie Sie!

Ihr Alex – Staff von http://www.ichliebedich.it

 

17.04.2018 23:48

Re: Re: Re: Re: Re: Re: Löschung Profil Anna Hertz

Was für ein Tag, Alex. Daher aUch meine späte Antwort. Verzeihen Sie mir Und vielen Dank für Ihre wertvollen Tipps mit der Strg-Taste. Ich mUss gestehen, dass es einen Moment lang geholfen hat, mein U wUrde tatsächlich winzig, aber nUn ist es wieder genaUso groß wie vorher. Was will man machen, ich werde dieses große U wahrscheinlich nie wieder los. Aber ehrlich gesagt, ist dieses kleine große U mein geringstes Problem. Ich gehe jetzt schlafen, Alex, ich bin traUrig Und BetrUnken. Mit je einem großen U.

TschUess, Anna.

 

18.04.2018 07:59

Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Löschung Profil Anna Hertz

Wie geht es Ihnen heute, Anna?

Es ist schön, dass Sie mir gestern Abend doch noch geantwortet haben, obwohl Sie traurig und betrunken waren. Ihr Profil wurde inzwischen gelöscht, das Abendessen abgesagt. Ich soll Sie herzlich von dem Herrn grüßen, der es sehr bedauert. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Die Gebühren müssen Sie nicht zahlen.

Alles Gute,

Ihr Alex – Staff von http://www.ichliebedich.it

 

20.04.2018 11:35

WG: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Löschung Profil Anna Hertz

Anna,

ist alles in Ordnung bei Ihnen? Wie geht es Ihrem kleinen U?

Grüße,

Alex – Staff von http://www.ichliebedich.it

 

22.04.2018 16:50

WG:WG: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Löschung Profil Anna Hertz

Anna? Bitte antworten Sie mir nur ein letztes Mal, dann werde ich Sie nicht mehr behelligen. Ich verspreche es. Es darf auch eine automatische Antwort sein, weil Sie gerade auf Dienstreise sind. Nur ein letztes Wort, ich bitte Sie.

Alex – Staff von http://www.ichliebedich.it

 

22.04.2018 16:50

Re: WG:WG: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Löschung Profil Anna Hertz

Sehr geehrte Dame, sehr geehrter Herr.

Diese Emailadresse existiert nicht mehr. Bitte wenden Sie sich an admin@hertzsolutions.it.

 

***

 

 

Das kleine U – Teil II

24.04.2018 10:00

Wo sind Sie?

Liebe Anna,

ich muss gestehen, ich habe Sie gegoogelt. Ich habe herausgefunden, dass Sie hier in Südtirol eine eigene Stiftung haben. Hertzsolutions, wirklich ein gelungener Name. Nomen est omen, würden die Lateiner sagen. So eine wunderbare Sache, herzkranken Kindern zu helfen. Ich wusste ja nicht einmal, dass wir in derselben wunderschönen Region leben. Vielleicht sind wir am Ende auch noch Nachbarn oder kennen uns sogar? Wollen Sie mir nicht vielleicht verraten, wo sich Ihre Stiftung befindet? Im Internet habe ich leider keine Adresse gefunden.

Ich bin ein sehr neugierig, liebe Anna. Falls Ihnen meine Fragen auf die Nerven gehen, reicht ein Wort und ich werde Sie nie wieder stören.

Alex.

 

25.04.2018 9:00

Re: Wo sind Sie?

Lieber Alex,

ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll. Es ehrt mich, dass ich Ihre NeUgier geweckt habe. Und ja, ich habe den wUnderbarsten BerUf der Welt gewählt. Schade nUr, dass ich meine Tätigkeit bald aUfgeben werden mUss. Es ist einfach an der Zeit. Ich wünsche Ihnen alles GUte, lieber Alex. Sie haben mich nie gestört.

Anna

 

26.04.2018 8:24

Re: Re: Wo sind Sie?

Oh Gott, Anna. Endlich sind Sie wieder da. Ich habe mir ehrlich Sorgen um Sie gemacht. Nachdem Sie unter Ihrer alten Emailadresse nicht mehr erreichbar waren, habe ich nächtelang kein Auge zugemacht. Ich habe Sie und Ihr kleines U vermisst und mir das Schlimmste ausgemalt. Warum werden Sie Ihre Tätigkeit mit der Stiftung aufgeben? Die Kinder brauchen Sie doch! Tun Sie das nicht, Anna. Oder nur, falls Sie einen wirklich guten Grund dafür haben.

Mir ist übrigens aufgefallen, dass Sie in Ihrem Ichliebedich-Profil weder Ihr Alter angegeben hatten, noch irgendwelche Fotos von sich gezeigt hatten. Gab es hierfür einen Grund? Verzeihen Sie, ich beginne schon wieder, in Dingen zu bohren, die mich eigentlich nichts angehen. Aber irgendwie fühle ich mich Ihnen verbunden, Anna. Ich kann nicht anders. Ich möchte Sie kennenlernen.

 

26.04.2018 11:01

Re: Re: Re: Wo sind Sie?

Alex,

rUhig BlUt!

Sie möchten mich kennenlernen? Habe ich das richtig gelesen? Mich? Anna Hertz? Nein, das wäre nicht gUt. Sie wären zUtiefst enttäUscht.

Ich kann meine Arbeit nicht weitermachen. Es ist einfach an der Zeit. Nicht, dass ich es nicht wollte, aber ich schaffe es einfach nicht mehr. Es ist gUt so wie es ist. Ich habe eine würdige Nachfolgerin gefUnden, die bereits eingelernt wird. Machen Sie sich bitte keine Sorgen mehr, so ist er nUn einmal, der LaUf des Lebens. Ich werde mich nUn von Ihnen verabschieden, lieber Alex. Ich werde morgen Umziehen, ich werde mein ZUhaUse aUfgeben, Unter anderem aUch diesen dUmmen CompUter mit seinem Ungezogenen kleinen großen U. Ich werde nicht mehr erreichbar sein. Ich will ehrlich zU Ihnen sein, Alex. Mir bleiben noch etwa drei Wochen. Nicht mehr. Und diese drei Wochen will ich in meinem ElternhaUs verbringen. Man wird sich Um mich kümmern, dafür ist gesorgt. Keine Schmerzen mehr, nUr noch gUte LandlUft, Sonne Und blühende Wiesen. Das wUrde mir versprochen.

Ich Umarme Sie, Alex.

Ihre Anna.

 

An Frau Anna Hertz

Wiesenweg 7

 

Liebe Anna,

es war nicht einfach, Ihre Adresse herauszufinden. Man wollte mir in der Hertz-Stiftung nichts über Sie verraten, Ihr Personal ist wirklich sehr diskret und gut geschult. Ein Foto im Eingangsbereich hat mir dann verraten, wo Ihr Elternhaus steht. Das alte Schwarzweiß-Foto auf dem Ihre Eltern als Kinder zu sehen sind. Ich habe es lange studiert und bin dann dank meiner Eltern draufgekommen, wo dieses Haus ist. Tatsächlich wohnen Sie nicht weit weg von mir. Eigentlich muss ich nur ein paar Kilometer über die Landstraße fahren, um bei Ihnen zu sein.

Ich verstehe Ihre Anspielungen nicht. Sie behaupten, nur noch drei Wochen zu haben. Doch hoffentlich nicht zum Leben? Sie schreiben, dass Sie keine Schmerzen mehr haben werden, dass es Ihnen versprochen wurde. Was fehlt Ihnen, Anna? Ich bitte Sie, lassen Sie mich ein. Ich komme Sie besuchen, wir können auch nur ein Gläschen Wasser miteinander trinken, und sobald ich Ihnen lästig bin, gehe ich wieder.

Ich habe Ihnen noch nichts über mich selbst erzählt, Anna. Ich bin eigentlich ein stiller, besonnener Mensch. Ich gehe nicht oft aus, ich habe keine Freundin. Ich habe eine kleine Wohnung, ich besuche meine Eltern regelmäßig auf ihrem Hof. Das Hofleben fehlt mir ab und zu, aber es ist schon in Ordnung, ich kann schließlich mit Mitte dreißig nicht mehr bei Mama und Papa wohnen. Ich treibe viel Sport, am Wochenende wandere ich und fahre oft mit dem Fahrrad über unsere wunderschönen Pässe. Mein Aussehen kann ich schwer beschreiben, ich glaube, ich bin einfach nur ein ganz normaler Typ. Ein Meter fünfundsiebzig groß, dunkle Haare, dunkle Augen. Nicht zu dick und nicht zu dünn.

Ich weiß nicht, wie ich diesen Brief beenden soll, liebe Anna. Jedes Wort scheint fehl am Platze. Ich beende ihn mit dem Wort HOFFNUNG. Mit der Hoffnung, von Ihnen eingeladen zu werden und Sie endlich persönlich kennenzulernen.

Bis bald

Ihr Alex

Das kleine U – Teil III

30.04.2018 10:01

Einen lieben GrUß

Lieber Alex,

Sie werden sich sehr über meine Email wUndern, eigentlich hatte ich Ihnen ja gesagt, dass ich meinen CompUter Und das kleine U zUrücklassen würde. Dem war letzten Endes nicht so, ich habe mir gedacht, warUm soll ich mich in diesen drei Wochen zU Tode langweilen? Ha, welche Ironie, ich mUss fast schon schmUnzeln. Dieses U macht mich verrückt. Ich sUche die ganze Zeit nach Worten, die kein U beinhalten, aber man kommt einfach nicht an ihm vorbei, dem U. Haben Sie schon mal versUcht, einen Satz ohne ein U zU schreiben? GlaUben Sie mir, Alex, Sie werden es nicht schaffen. Und falls doch, werde ich Sie zU mir einladen. Gilt die Wette Um den U-freien Satz? Natürlich mUss er mehr als 7 Worte haben, sonst wäre es zU einfach. Viel Glück!

Ich verstehe, dass Sie aUfgewühlt sind, schließlich sind meine Nachrichten sehr kryptisch. Ich spreche nicht gerne über mich selbst Und mein Leiden. Mit ihrem Brief haben Sie mich zU Tränen gerührt, ich hätte wirklich nicht gedacht, dass Sie mich mit den modernen Methoden aUsspionieren Und nach mir fragen würden. Schon gar nicht hatte ich mir einen Brief von Ihnen erwartet. Bitte verzeihen Sie mir, wenn ich Sie nicht zU mir einlade. Zwar würde aUch ich Sie gerne persönlich kennenlernen, aber ich denke, dieser Brief- Und Emailwechsel ist für Uns beide besser. VertraUen Sie mir in dieser Hinsicht bitte.

Ich versUche, mir vorzUstellen, wie Sie aussehen. Sie sagen, Sie seien einfach nUr ein ganz normaler Typ. Niemand ist normal. Es gibt keinen 0815-Menschen. Jeder ist anders, das hat Gott so eingerichtet. Jeder von Uns ist besonders. Auch Sie, Alex. Ich bin zUm Beispiel davon überzeugt, dass Sie wUndervolle AUgen haben. Warme, verständnisvolle, aUfmerksame AUgen. AUgen, die in einen Menschen hineinblicken, die Unter die gewohnte Oberfläche taUchen. AUgen die soviel sehen, wie das Herz des kleinen Prinzen. Erinnern Sie sich an das BUch von Saint-ExcUpéry? Man sieht nUr mit dem Herzen gUt, sagte er. Wie recht er doch hatte. Ihre AUgen sind wie Ihr Herz, Alex, sonst würden Sie sicher nicht für eine AgentUr wie ichliebedich.it arbeiten. Und Sie würden sich nicht Um eine herzkranke FraU kümmern als kannten Sie sie schon lange.

Ich schweife aUs, Alex. Es ist Zeit für meinen kleinen Vormittagsspaziergang. Ich freUe mich aUf Ihre Antwort.

Anna.

 

30.04.2018 10:31

Re: Einen lieben GrUß

Liebe Anna,

welch wundervolle Überraschung. Sie haben meinen Tag gerettet. Sie Engel. Ich konnte es kaum glauben, als ich Ihre Email gesehen habe. Ich saß im Auto und wäre vor Freude fast gegen die Leitplanke gekracht. Danke, Anna, danke, dass Sie nicht einfach weggegangen sind. Verzeihen Sie mir, aber dafür könnte ich sie jetzt küssen.

Gut, dann haben wir also eine Wette laufen. Ich muss einen Satz mit mindestens sieben Worten ohne jegliches U finden. Ich erhöhe auf zehn Worte. Ich werde das schaffen. Aber sie müssen mir Zeit geben, drei Wochen mindestens. So eine Wette erfordert Fantasie.

Ich danke Ihnen, dass Sie meine Augen mit den Worten des kleinen Prinzen verglichen haben. Ich kann mich gut daran erinnern, wie frustriert der kleine Prinz war, als er entdeckte, dass seine Blume nicht so außergewöhnlich war, wie er gedacht hatte. In Kapitel zehn hatte er den Rosengarten entdeckt, alle Rosen sahen genauso aus wie die, die er zurückgelassen hatte. Er fühlte sich erniedrigt, weil diese eine Rose keinen großen Prinzen aus ihm gemacht hatte. Und dann hat er sich ins Gras geworfen und geweint, wie so oft. Manchmal war der kleine Prinz wirklich ein wenig seltsam, finden Sie nicht, Anna?

Falls Sie auf Ihrem Spaziergang einen Rosengarten sehen, weinen Sie bitte nicht. Jede von ihnen ist einzigartig. Ich würde Ihnen die schönste pflücken, damit Sie sich wie die größte Prinzessin der Welt fühlen.

Alex.

 

30.04.2018 18:21

Re: Re: Einen lieben GrUß

Lieber Alex,

ich habe aUf meinem Spaziergang tatsächlich ein paar Rosen gesehen, aber geweint habe ich nicht. Was für ein wUnderbarer Frühling. Er ist so warm, so dUftend, so wohltUend. Ich glaUbe, ich habe mir sogar einen kleinen Sonnenbrand aUf der Nase geholt. Wie gUt die Sonne mir tUt. Sie erweckt Ungeanhte Kräfte in mir. Ich hatte plötzlich LUst, den Garten meiner Eltern aUf Vordermann zU bringen. Meine Pflegerin konnte mich gerade noch davon abhalten, mit SchaUfel Und Harke aUf das UnkraUt loszUgehen. Sie hat mir dann einen Tee im Garten serviert. Sie ist schon eine gUte Seele, aUch wenn Sie teilweise ein wenig zU besorgt ist. ZUm Beispiel will Sie mir keinen Kaffee machen, weil Sie Angst Um mein Herz hat. GUte FraU, sage ich, dieses Herz schlägt nicht mehr lange. MUss denn mein GaUmen aUf den GenUss verzichten, bloß weil das Herz keine LUst mehr zUm arbeiten hat? Ich benehme mich wie ein verwöhntes Mädchen, ich weiß. Aber wissen Sie, ich möchte diesen klitzekleinen Lebensabend genießen Und da will ich auch aUf den Kaffee nicht verzichten.

Wie war Ihr Tag, Alex? Erzählen Sie mir etwas, mit dem ich einschlafen kann.

Anna.

 

30.04.2018 21:15

Re: Re: Re: Einen lieben GrUß

Hallo Anna,

heute bin ich derjenige, der traurig und betrunken ist. Ich kann damit nicht umgehen. Ich schaffe es nicht. Sie sind ein Teil meines Lebens geworden, ich denke ständig an Sie, aber ich darf Sie nicht sehen. Das ist nicht fair. Ich sehne mich nach Ihnen, ich will wissen, mit wem ich es zu tun habe. Ich bin wütend. Auf Sie und auf mich selbst. Ich bin wütend auf ichliebedich.it. Ich bin in etwas hineingeraten, das ich nicht kontrollieren kann. Ich bin in Ihr Leben hineingeraten, in Ihre letzten drei Wochen. Mein Kopf fährt Karussell, mein Herz Achterbahn. Mir ist zum Schreien, mir ist schlecht und schwindlig. Das kann natürlich auch am Alkohol liegen, aber vor allem liegt es an Ihnen, Anna. Sie lassen mich nicht über Ihren Gartenzaun. Ich stand heute vor Ihrem Elternhaus. Ich habe in Ihren Rosengarten geschaut. Sie haben mir nicht mal erzählt, was für wundervolle Rosen Sie haben. Ich habe die Pflegerin gesehen, die sich um Sie kümmert. Sie, Anna, habe ich nicht gesehen. Ich bin ein paar Minuten dagestanden, dann bin ich wieder auf mein Fahrrad gestiegen und wie ein geprügelter Hund nach Hause gefahren. Dann habe ich den Wein aufgemacht. Und nun stelle ich Sie vor die Wahl, Sie und Ihr kleines U: ganz oder gar nicht. Entweder wir lernen uns persönlich kennen, oder dies waren die letzten Worte.

Ich meine es ernst, Anna. Besser, ich gehe jetzt schlafen.

Alex.

 

Das kleine U – Teil IV

01.05.2018 06:35

Re: Re: Re: Re: Einen lieben GrUß

Hallo Alex.

Ich habe eineinhalb Tage lang geschmollt. Ich habe mir sogar überlegt, Ihnen gar nicht mehr zU schreiben. WarUm sollte ich auch. Ich bin todsterbenskrank, ich habe noch etwa zwei Wochen zU leben, warUm soll ich mich dann noch mit einem Uneinsichtigen Jüngling wie Ihnen herUmstreiten? WarUm sollte ich Sie Um VerzeihUng für etwas bitten, das ich für richtig halte?

HeUte morgen bin ich Um fünf Uhr aUfgewacht Und plötzlich war mein Zorn verraUcht. WarUm weiß ich selbst nicht. Ich konnte Sie plötzlich verstehen. Sie schreiben einer Person, die Sie nicht kennen. Sie haben keine AhnUng davon, wie ich aUssehe. Sie wissen nicht, wie alt ich bin, Sie wissen gar nichts von mir. Und doch kümmern Sie sich Um mich, sorgen Sie sich Um mich. Das müssten Sie nicht tUn. Sie hätten mich aUch einfach fallen lassen können, nachdem Sie mein Profil gelöscht haben. Stattdessen haben Sie mich gesUcht, mir geschrieben, ja sogar mein HaUs haben Sie gefUnden. Sie sind wirklich ein wUndervoller Mensch, lieber Alex.

Ehrlich gesagt, war ich kUrz davor, doch noch eine EinladUng aUszUsprechen. Ich dachte mir, warUm denn eigentlich nicht? Was haben wir denn zU verlieren? Ein jUnger Mann will mich einfach nUr kennenlernen Und vielleicht einen Kaffee mit mir trinken. Wir werden eine halbe StUnde im Garten sitzen Und miteinander plaUschen. Irgendwann werde ich müde werden Und zU Bett gehen. Der jUnge Mann wird wieder gehen. Vielleicht mit einem Lächeln im Gesicht, vielleicht mit enttäUschter Miene. Wo ist das Problem, Anna, habe ich mich gefragt. Dann bin ich langsam aUfgestanden, mein Herz ist gestolpert Und ich habe mich zUm CompUter geqUält. Der plötzliche MUt hat mich sofort wieder verlassen.

Anna.

 

01.05.2018 07:00

Re: Re: Re: Re: Re: Einen lieben GrUß

Ach Anna.

Es tut mir unendlich leid. Was habe ich Ihnen in meinem Suff nur angetan? Ich hatte kein Recht dazu, Sie zu erpressen. Natürlich waren dies nicht meine letzten Worte, ich könnte doch gar nicht ohne Ihre Zeilen leben. Bitte seien Sie mir nicht böse, es würde mir das Herz brechen.

Es ist schön, dass Sie einen Moment lang zumindest mit dem Gedanken gespielt haben, mich einzuladen. Das gibt mir Hoffnung, wenn auch nur wenig. Ich akzeptiere, dass Sie mich nicht sehen wollen. Es fällt mir zugegebenermaßen schwer, aber wenn man einen Menschen gern hat, muss man seine Entscheidungen respektieren, egal, wie weh sie tun. Oder wie uneinverstanden man mit Ihnen ist. Ich werde Sie nicht länger damit quälen. Übrigens habe ich den „kleinen Prinzen“ tatsächlich noch einmal gelesen. In betrunkenem Zustand. Lagrein und Saint-Exupéry, das verträgt sich wunderbar, wissen Sie? Plötzlich versteht man, was man nüchtern nicht nachvollziehen kann. Alkohol ist eine Lösung und klärt auch die Gedankengänge dieses verschrobenen kleinen, blondgelockten Knilchs. Wirklich, Anna, probieren Sie es aus: Trinken Sie eine Flasche Rotwein und lesen Sie das Buch. Es ist WUNDERVOLL. Übrigens ist mir eine Textstelle in Erinnerung geblieben, die mich doch sehr an uns beide erinnert:

„Du kennst nicht die Stunde des Besuches, aber du musst wissen, dass er allein in der Welt die Macht hat, dich mit Glück zu erfüllen.“

Ist das nicht wunderschön, Anna?

 

01.05.2018 07:20

Re: Re: Re: Re: Re: Re: Einen lieben GrUß

Diese Zeilen sind wirklich wUndervoll, Alex, danke dafür. Ich will Ihnen einen Vorschlag machen. Kommen Sie am 14. Mai um 10:00 Uhr zU mir. Nicht vorher, Und seien Sie pünktlich. Ich gehe ins Bett zUrück, es geht mir heUte nicht gUt.

Anna.

 

01.05.2018 08:00

Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Einen lieben GrUß

Danke Anna. Danke, danke, danke. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich Sie mich machen. Ich werde da sein. Ruhen Sie sich aus.

Alex.

 

01.05.2018 18:00

WG: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Einen lieben GrUß

Anna, wie geht es Ihnen? Ist alles in Ordnung? Ich mache mir Sorgen. Bitte, nur ein Wort.

 

02.05.2018 08:00

WG: WG: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Einen lieben GrUß

Anna? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?

Alex

 

02.05.2018 10:00

WG: WG: WG: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Einen lieben GrUß

Anna bitte… ich werde verrückt vor Sorge. Bitte melden Sie sich bei mir. Schicken Sie mir doch wenigstens ein kleines U, damit ich weiß, dass Sie wieder auf den Beinen sind.

Alex.

 

13.05.2018 14:30

Re: WG: WG: WG: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Einen lieben GrUß

Alex.

Ich habe meiner Pflegerin den AUftrag gegeben, Ihnen von meinem CompUter aUs diese Email zU schreiben. Ich liege im KrankenhaUs, seit einigen Tagen nUn schon. Flüssigkeit tropft in meinen Arm, ich habe keine Kraft mehr. Ich will nach HaUse. Ich habe den Arzt bestochen, damit er mich gehen lässt. Ich kann diese Enge nicht mehr ertragen, die Kranken, die Medikamente, die Sterilität. Ich werde mich selbst entlassen, noch heUte Nachmittag. Schließlich habe ich morgen einen wichtigen Termin. Ich werde den liebsten Menschen dieser Welt kennenlernen. Bitte antworten Sie mir so schnell wie möglich, die Pflegerin wartet aUf Ihre Antwort.

Anna.

 

13.05.2018 14:35

Re: Re: WG: WG: WG: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Einen lieben GrUß

Liebe Anna,

ich weine selten, aber dieses Mal konnte ich nicht anders. Ich habe Angst. Sie liegen im Krankenhaus, und ich kann nichts für Sie tun, ich kann Ihnen nur schreiben und hoffen, dass Ihre Pflegerin diese Email ausdrucken und vorlesen wird.

Ich habe in den letzten Tagen kaum gegessen, nachts konnte ich nicht schlafen. Aber das ist in Ordnung. Das ist Liebe. Ja, Anna, ich meine es ernst. Wenn wir von Liebe sprechen, meinen wir zunächst die chemische Reaktion, die uns so scharf aufeinander macht. Die uns alles andere vergessen lässt. Das hier hingegen sind die Gefühle, die am Ende bleiben, dann, wenn es hart auf hart kommt. Wenn wir vor lauter Sorge um den geliebten Menschen fast umkommen, wenn wir unser Leben für den anderen hergeben würden, wenn wir unsere Seele für ihn verschenken würden, nur, damit es ihm oder ihr besser geht. Dann ist es Liebe. Liebe ist Kraft. Liebe ist mächtig. Mächtiger als Krankheit, als Wut, als der Tod, eben, weil sie bleibt, weil sie über diesen Dingen steht. Wenn wir einen Menschen lieben, bleibt dieses Gefühl bestehen, auch wenn der andere stirbt. Wir sind nicht verheiratet, Anna, aber dein Tod wird uns nicht scheiden. Ich werde morgen da sein.

Bis ganz bald, liebe Anna.

Dein Alex.

 

14.05.2018 08:30

Re: Re: Re: WG: WG: WG: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Einen lieben GrUß

Sehr geehrter Alex,

mein Name ist Lena, ich bin die Krankenpflegerin von Anna.

Ich mUss Ihnen leider mitteilen, dass Anna heUte Nacht verstorben ist. Sie war sehr schwach Und ihr Tod ist für Uns alle schlimm. Wir haben Anna sehr gemocht. Sie war trotz Ihrer neUnUndachtzig Jahre ein klar denkender Mensch, eine liebenswürdige alte FraU.

Sie hat mir aUfgetragen, Ihnen folgendes Zitat mit aUf den Weg zU geben:

„Hast DU Angst vor dem Tod?“ fragte der kleine Prinz die Rose. DaraUf antwortete sie: „Aber nein. Ich habe doch gelebt, ich habe geblüht Und meine Kräfte eingesetzt soviel ich konnte. Und Liebe, taUsendfach verschenkt, kehrt wieder zurück zU dem, der sie gegeben. So will ich warten aUf das neUe Leben und ohne Angst Und Verzagen verblühen.“

Das BUch lag aUf Ihrem Nachtisch, als ich sie heUte Morgen in Ihrem Bett gefUnden habe. Ich glaUbe, Anna hat sie sehr gemocht. Sie Und den kleinen Prinzen.

Alles GUte, lieber Alex.

Ihre Lena.

Entführt!!! Ein Hochzeitsthriller in drei Teilen

Teil I

Mittwoch.

20:13:16

Tom betritt seine Wohnung. Es war ein langer Tag, seit halb acht war er im Büro, hatte sich den ganzen Tag mit den Problemen und Wünschen der Kunden herumgeschlagen, hatte sie beraten und beschwichtigt, ihnen zugehört und für ihre Zufriedenheit gesorgt. Dann war er wie so oft Laufen gegangen, erst durch die Bozener Innenstadt, anschließend die Talfer entlang, um den Kopf freizubekommen. Nun endlich ist er daheim, endlich auf das Sofa, endlich kann er den PC anschalten, eine Kleinigkeit essen und dann nur noch spielen, spielen, spielen. Gegen 21 Uhr wird seine Freundin anrufen, er freut sich trotz der Müdigkeit darauf, Marlenes Stimme zu hören.

21:05:17

Das Telefon surrt auf dem kleinen Tischchen neben dem Schreibtisch. Tom schreckt auf. Ist er doch tatsächlich vor dem Fernseher eingeschlafen. Hektisch wischt er über das Touchpad, nimmt den Anruf seiner Freundin entgegen. Auch sie klingt müde und abgehetzt, sie erzählen sich nur kurz von ihrem Tag und wünschen sich dann eine gute Nacht.

21:09:23

Das Telefon brummt erneut, dazu erzeugt es ein klackerndes Geräusch. Eine Nachricht. Tom beachtet sie erst nicht, macht noch einen Spielzug, dann nimmt er das Telefon erneut in die Hand. „Samstagvormittag zu Hause bleiben. Jetzt bist du dran.“, schreibt sein Freund Matteo. Tom runzelt die Stirn, schiebt seine Unterlippe ein wenig vor und wählt Matteos Nummer, um den Hintergrund dieser bedrohlichen Nachricht zu verstehen. Doch Matteo hat sein Telefon bereits ausgeschaltet.

Freitag.

19:30:56

Die Wohnungstür öffnet sich, Tom steht auf, er hat gerade etwas zu essen gerichtet. Endlich ist sie da, Marlene, Toms große Liebe. Sie sieht müde aus, die Fahrt war anstrengend, aber nun ist ja endlich Wochenende. Tom nimmt sie in den Arm, küsst sie sanft. Sie lächelt, schnuppert, freut sich wie immer über seine Kochkünste, mit der er sie am Wochenende verwöhnt. Sie ist glücklich, endlich bei ihm zu sein.

20:45:19

„Du bist morgen Vormittag um 10 Uhr zu Hause. Geh nicht aus dem Haus. Zieh dir alte Sachen an.“ Schon wieder Matteo. Was hat der Kerl bloß, fragt Tom sich und zeigt seiner Freundin die dubiosen Nachrichten der letzten Tage. Sie zuckt mit den Schultern und sieht Tom mit großen Augen an. „Was will er?“, fragt sie und trinkt noch einen Schluck Wein. Dann stellt sie die Teller zusammen, trägt sie in die Küche und beginnt mit dem Abwasch. „Ich habe keine Ahnung. Aber das klingt bedrohlich. Ich weiß nicht, was sie vorhaben.“ „Wir müssen am Montag zum Standesamt, um das Aufgebot zu machen. Du hast dir doch freigenommen, oder?“, wechselt Marlene das Thema.

 

Samstag.

09:55:30

Marlene ist im Bad, sie ist mit ihren Haaren beschäftigt. Die Tür ist abgeschlossen, sie mag es nicht, wenn man ihr dabei zusieht. Tom sitzt auf dem Sofa, nippt an seinem Kaffee, er weiß nicht, ob er wirklich im Haus bleiben soll. Er steht auf, er ist nervös, zappt sich noch einmal durch die Kanäle, sieht die Wettervorhersage, da klingelt es Sturm an der Tür. Vor lauter Schreck lässt er seine Kaffeetasse fallen, er flucht leise, will den Schaden beseitigen, doch es klingelt noch lauter, jemand klopft wild an die Tür. Marlene ruft nach ihm, kommt aus dem Bad, machte die Tür auf, wird zur Seite gestoßen. Tom hat nicht einmal Zeit, sich umzudrehen, da wird er von hinten überwältigt. Zwei Personen halten ihn fest, ein weiterer stülpt von hinten einen schwarzen Sack über seinen Kopf. Er wehrt sich, versucht, sich den Sack vom Kopf zu reißen, doch er hat keine Chance. Er riecht das Plastik, sieht schwarz, er hat einen Moment lang Angst, er könne ersticken, doch dann sieht er, dass überall kleine Luftlöcher sind und beruhigt sich ein wenig.

10:01:04

Zu dritt zerren sie ihn in den Wagen, Tom wehrt sich mit aller Kraft, doch sie sind stärker. Sie nehmen ihn an den Armen und ziehen ihn vor die Haustür gezogen, er hat sich den Kopf gestoßen, so grob sind sie. Er erkennt ihre Stimmen nicht, nur die von Matteo. Bis jetzt haben sie kaum miteinander gesprochen, nur ein paar Mal einander etwas zugeflüstert. Die Türen werden geschlossen, er hört, wie die Zentralverriegelung des Autos klickt, er kann nicht aussteigen, er sitzt auf der hinteren Bank zwischen zwei Personen, die ihn weiterhin an den Armen halten. Ihm ist heiß, er schwitzt in dem schwarzen Plastiksack, doch er bekommt genug Luft zum atmen. Immer wieder fragt er, wer sie sind, und wo sie mit ihm hinfahren werden. Sie lachen nur, geben ihm keine Antwort…

 

Teil II

 

10:10:13

Der Wagen hält, Tom lauscht angestrengt und versucht, sich zu orientieren. Doch es waren zu viele Kurven, zu viel Stop and Go, er findet sich nicht mehr zurecht. Dann gibt der Fahrer wieder Gas, hupt und verrät sich, weil er über den Wagen vor sich schimpft. Tom erkennt einen weiteren Freund, es ist Marco. Marco und Matteo also. Er versucht, seine Arme zu heben, um sich im schwarzen Sack den Schweiß von der Stirn zu reiben, doch der Sicherheitsgurt ist im Weg. „Immerhin haben meine Entführer daran gedacht, ihn mir anzulegen“, denkt er und lehnt sich vorsichtig zurück. Tom hat nicht nur die Orientierung, sondern auch das Zeitgefühl verloren: er weiß weder, wo er ist, noch, wie lange sie bereits unterwegs sind.

10: 20: 04

Die Autotür wird geöffnet. Eine starke Hand hält ihm den Kopf und lässt ihn aussteigen. Tom stolpert, fängt sich dann aber doch und lässt sich ein paar Meter weiterführen. Eine weitere Tür wird quietschend geöffnet. Die Männer lachen. Dann endlich befreien sie ihn von dem schwarzen Sack, er spürt den Schweiß, der ihm in Rinnsalen über den Rücken läuft und wischt sich mit dem Arm über die Stirn. Endlich sieht er seine Widersacher vor sich. Vier seiner besten Freunde stehen wiehernd im Kreis um ihn herum und lachen Tränen. Tom wird einen Moment lang wütend, er erhebt seine Stimme, fragt laut, was das Ganze soll, wo er hier sei, sie antworten nicht, sagen nur: Los, geh dich umziehen, da geht es lang!

10:21:45

Tom sieht sich um. Ein graubraunes Gelände liegt vor ihm, überall stehen Hindernisse, Holzbarrieren, Wände, Schutzwälle aus Stein, Bäume, Büsche, der Boden ist matschig. In der Ferne hört er Schüsse, das Rattern der Paintballguns. Dann ertönen ein paar Schreie, Befehle, ein paar junge Männer rennen über das Gelände, ihre Militäranzüge sind voller Farbflecken. Sekunden später verschwinden sie im Unterholz.

Matteo drückt Tom eine große Plastiktasche in die Hand, schiebt ihn vor sich her, sagt, er solle sich beeilen, die Jäger seien schon bereit. Tom wird in eine Blechhütte geschoben, er öffnet die Plastiktasche, zum Vorschein kommt ein Bärenkostüm. „Na, das kann ja heiter werden“, flüstert Tom verzweifelt und steigt in das Kostüm.

10:30:06

Tom, der Bär und vier Jäger, die es auf ihn abgesehen haben. Sie haben sich in einer Reihe aufgestellt, die Pumpguns im Anschlag. Tom nimmt Anlauf, dann spurtet er todesmutig an ihnen vorbei. Obwohl er nur knappe zwanzig Meter laufen soll, scheint die Strecke kein Ende nehmen zu wollen. Er rennt so schnell er kann, trotzdem fühlt er sich, als würde er in Zeitlupe an seinen Freunden vorbeirennen. Ein Farbball nach dem anderen trifft ihn, sie tun weh, er spürt, wie sie auf seinen Beinen, seinen Armen und auf seinem Rücken landen, an seinem Körper zerplatzen und Blutergüsse hinterlassen. Platsch! Eine Kugel ist an seiner Schulter gelandet. Die Gewehre rattern, es hört sich an wie im Krieg. Nur ein paar Sekunden vergehen, doch Tom scheint der Weg an den Freunden vorbei nicht mehr zu enden.

10:35:14

Matteo kriegt sich kaum mehr ein, er schießt ein Foto nach dem anderen von Tom, dem buntgefärbten Bären. Marco nimmt ein wenig Abstand von der Gruppe, Tom beobachtet aus den Augenwinkeln, wie er eine Nummer wählt und sich dann das Telefon ans Ohr hält. „Was denn nun noch?“, fragt er sich und versucht, ein paar Worte aus dem Telefonat zu erhaschen.

„Wir haben deinen zukünftigen Ehemann entführt“, hört er heraus.

„Du willst ihn freikaufen? Ja natürlich, aber nur, wenn du Lösegeld zahlst. Oder sagen wir es so, du kannst natürlich auch wiederhaben, wenn du für ein ordentliches Mittagessen nach der Schlacht sorgst…“

 

Teil III

 

10:36:00

Marlene starrt ihr Telefon an. Sie glaubt nicht, was sie da eben gehört hat. Diese vier Trottel haben Tom entführt. Daher also diese seltsamen Nachrichten der letzten Tage, dass er um zehn Uhr daheim sein solle und sich alte Sachen anziehen müsse. Marlene setzt sich auf das Sofa, sie versteht nicht, was Matteo mit dieser Schlacht meinte. Sie wählt die Nummer von Monica, seiner Frau. Monica ist überrascht, als Marlenes Anruf sie erreicht und sie sich bei ihr erkundigt, wo ihr Mann sei.

„Oh, ich glaube, Matteo spielt heute Vormittag Paintball. Du weißt schon, in diesem alten, schäbigen Gelände da hinten in der…“ Marlene hat verstanden. Sie wartet nicht einmal das Satzende ab, sondern schnappt sich die Autoschlüssel und ihre Tasche und tritt das Gaspedal durch.

11:15:56

Marlene steht vor dem Gatter, das zum Paintballgelände führt. In der Ferne hört sie Rufe und das Rattern der Pumpguns. Das Tor ist abgeschlossen, aber Marlene findet ein kleines Loch in der Böschung. Angestrengt schaut sie durch, bis sie tatsächlich ein paar Personen erkennen kann. Immer wieder rennen ein paar junge Männer in olivgrüner Kleidung vorbei, sie sehen aus wie Soldaten. Nur einer von ihnen trägt braune Kleidung. Was heißt Kleidung, bei genauerem Hinsehen bemerkt Marlene, dass der Mann eine Art Fellkostüm trägt, das von oben bis unten mit Farbklecksen besudelt ist. Die Person dreht sich einen Moment lang um, da erkennt Marlene ihren Freund Tom. Sie schreit auf, Tom hört sie, schleicht sich zu ihr, sie berühren sich kurz durch das Loch in der Hecke.

„Marlene… hol mich hier raus… Bitte… die spinnen alle!!“, flüstert Tom hektisch.

„Matteo sagte, ich soll dich mit einem Mittagessen freikaufen…“, antwortet Marlene und sieht die Panik in Toms Augen. Schon nähert sich eine grüne Gestalt und zieht Tom am Fuß. Er wehrt sich, strampelt und kann sich losmachen.

„Hol irgendwas… Hauptsache, es reicht für all diese Idioten. Kauf zwanzig Bratwürste und Kartoffelsalat!“

Der Soldat nähert sich dem Loch in der Hecke, grinst Marlene ins Gesicht und sagt: „Pizza für alle und du kriegst deinen Mann lebend wieder!“ Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwindet er mit Tom hinter der Blechhütte.

12:00:07

Marlene steht an der Kasse der Pizzeria und beobachtet nervös den Pizzabäcker. Unglaublich, ganze zwanzig Minuten hat er gebraucht, um die sechs Pizze vorzubereiten und ins Feuer zu schieben. Mit einer unendlichen Ruhe faltet er die Kartons, dann legt er sie herein und schließt sie, während Marlenes Geduldsfaden zu reißen droht.

12:15:14

Endlich öffnet sich das Tor. Marlene sieht den Weg kaum, so hoch stapeln sich die Pizzakartons in ihren Händen. Sie hört die Rufe der Männer, dann kommt Tom auf sie zu und nimmt ihr die obersten drei Kartons ab. Er trägt nun kein braunes Kostüm mehr. Sie beobachtet ihren Freund, er ist verschwitzt und humpelt ein wenig. Als er die Pizzakartons auf dem Holztisch abstellt, bittet er Marlene, seinen Hinterkopf nach der Kriegsverletzung zu untersuchen. „Kriegsverletzung?“, fragt Marlene belustigt. „Ich bin im Eifer des Gefechts rückwärts gegen einen Baum gerannt. Ich glaub, ich habe eine riesige Beule!“

Einige Minuten später sitzen Tom, Marlene und die vierköpfige Entführerbande auf den Holzbänken und genießen ihr Mittagessen. Toms Arme und Beine schmerzen, er hat ein gutes Duzend Paintballs abbekommen, seine Arme und sein Rücken sind von großen, blauen Flecken übersät. Doch er beklagt sich nicht, schließlich ist er froh, dass seine Freunde ihm einen würdigen Junggesellenabschied geschenkt haben. Als er und Marlene am frühen Nachmittag nach Hause kommen, erhält Marlene eine Nachricht von ihrer besten Freundin Erika: „Hier bei uns in Südtirol werden aber nicht nur die Bräutigame entführt, meine Liebe, also mach dich auf was gefasst…“.

 

 

 

Ringel und Socke – Ein Damenstrumpfmärchen

Der Abend vor der Reise (Teil I)

Die Schublade schloss sich, Dunkelheit. Ringel war enttäuscht und klammerte sich noch ein wenig fester an Socke. Sie konnte kaum glauben, dass sie dieses Mal nicht zu den Auserwählten gehörten. Jedes Mal waren sie mitgekommen, wenn es in Urlaub ging. Bei jeder Fahrt waren sie dabei gewesen, ob nun ins Piemont oder nach Deutschland, ans ligurische Meer oder nach Frankreich. Nie waren sie zu Hause geblieben. Und nun so etwas. Sie hatte sie einfach vergessen. Zugegeben, Ringel und Socke waren alt und ein wenig ausgeleiert, aber sie hatten keine Löcher und waren aus guter Baumwolle, made in Germany, zwei Euro neunundvierzig im Dreierpack bei NKD, man konnte sie ohne Probleme bei vierzig Grad waschen und sie trockneten innerhalb weniger Stunden, wenn man sie nur aufhängte. Und vor allem: Ringel und Socke hatten keine lästigen Nähte, die an den Zehen kniffen und nach wenigen Schritten für Blasen sorgten. Und sie waren so herrlich bunt. Streifen in allen Farben, von gelb über rot und blau und grün, sogar ein wenig rosa fand man in ihrem Stoff. Sie waren ihr immer treu gewesen, hatten ihre Füße gewärmt, ob nun bei der Arbeit, beim Spaziergang oder abends auf dem Sofa beim Fernsehkrimi. Sie waren ihre Begleiter, sie hatte sie stets gut behandelt. Doch nun schien ihr Leben als Lieblingsstrümpfe sich endgültig dem Ende zu nähern. Es war aus, ein für alle Mal. Ringel konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten und schluchzte laut auf.

„Sie nimmt uns nicht mit, Socke. Du wirst sehen, demnächst schmeißt sie uns in den Mülleimer. Wenn wir Glück haben, landen wir bei der Caritas.“

Socke versuchte, Ringel zu trösten, doch etwas Besseres als „Vielleicht wird sie uns noch als Putzlappen verwenden“, fiel ihr auch nicht ein. Sie war selbst über alle Maßen enttäuscht und wusste nicht, wie sie diesen schweren Schlag verdauen sollte.

„Nein, Socke. Dafür haben wir einen zu hohen Anteil an Polyester. Wir saugen doch nichts auf. Nur Fußschweiß“, rief Ringel und schlang sich mit aller Kraft um Socke. Nun wurde auch Socke bewusst, dass sie längst zu den alten, ausrangierten Teilen des Kleiderschrankes gehörten. Die Reise im vergangenen August war wohl die letzte gewesen. Und selbst damals hatten sie nur einmal das Licht gesehen, als es einen ganzen Tag lang geregnet hatte. Sie hatte sie angezogen, als sie das kalte Gebirgswetter nicht mehr ertragen hatte und sie selbst im Bett an den Füßen gefroren hatte. Das waren noch Zeiten gewesen, als Ringel und Socke ihre Retter in der Not waren!

Die Stunden vergingen, Ringels Tränen waren versiegt, doch ihre Traurigkeit war geblieben. Sie hatte mit ihrem Wehklagen die Wollstrümpfe geweckt, die sich an sie gekuschelt hatten, um sie zu wärmen. Die Damenstrümpfe waren kichernd in die andere Seite der Schublade gekrochen und hatten hinter vorgehaltenen Netzen gelästert. Ringel war es egal gewesen, vielleicht hatte sie es auch gar nicht mitbekommen. Socke hätte den Damenstrümpfen vor Wut am liebsten ein paar Laufmaschen verpasst, doch dann besann sie sich eines besseren und hielt Ringel im Arm, bis sie sich beruhigt hatte.

Es musste gegen elf Uhr abends gewesen sein, als die Schublade noch einmal geöffnet wurde und eine Hand hineingriff. Ringel erwachte und starrte ins diffuse Licht des Schlafzimmers. Als die Hand nach ihnen griff, konnte sie ihr Glück kaum fassen. Sie hatte sie doch nicht vergessen! Die Hand umschloss sie, nahm sie aus der Schublade und legte sie auf dem Spiegelkasten ab. Ringel sah sich vorsichtig um, ein paar Dinge lagen hier, ein Körbchen mit Schminke und ein Becher mit ein paar Pinseln, die grüne Unterwäsche aus dem Stock unter ihnen, ein Wollpulli und eine zusammengelegte, schwarze Hose. Ringel zupfte aufgeregt an Sockes Ferse, doch sie schlief tief und fest.

„Socke, Socke, wach auf!“

„Mmm… wir haben Urlaub… schlaf weiter.“

„Sockeeeeee…. Sie nimmt uns mit!“

„Ach was, du träumst. Schlaf jetzt. Gewöhn dich dran, du bist zu alt für solche Sachen.“

„Nein, Socke, sieh nur, wir liegen bei den Sachen, die sie morgen tragen wird. Wir fahren mit! Morgen geht es los! Oh Socke, ich kann es kaum glauben… das wird eine Reise… und wir sind live dabei!“

„Meinst du?“ fragte Socke gähnend und dehnte ein wenig ihr Bündchen.

„Ja, schau doch mal… da drüben sind ihre Schlabberhosen… die trägt sie immer, wenn sie mehrere Stunden im Auto fahren. Oh Socke, ich bin so glücklich…“

Und auch Socke war glücklich. Zwar ließ sie ihren Gefühlen nicht so viel freien Lauf wie Ringel, aber die Enttäuschung und die Traurigkeit der letzten Stunden konnte sie nicht leugnen. Nun würde alles gut werden. Sie würden noch einmal gemeinsam verreisen.

„Wo es wohl hingeht?“, fragte Ringel leise, als die Menschen schliefen.

„Hee, es ist Weihnachten. Dreimal darfst du raten“, brummte der Wollpullover.

„Zu den Eltern?“

„Ja, erst zu seinen, dann zu ihren. Wie jedes Jahr.“

„Sie wird wieder so viel essen, dass sie nicht mehr in mich hineinpasst“, jammerte die schwarze Schlabberhose.

„Ach was redest du denn, du hast ihr noch immer gepasst“, erwiderte die Unterhose, „Deshalb zieht sie dich ja immer an. Frag mich mal. Ich bin ihr eh schon ein wenig zu eng. Das ist mein Ende…“

Ringel konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. Diese Unterhose übertrieb es jedes Mal. Kein Wunder, ein Spitzenhöschen war natürlich sehr theatralisch, das lag in seiner Natur.

„Nur gut, dass wir Socken immer passen“, sagte sie beseelt, „und dass sie ein Herz für Socken hat. Sie hat immer nur seine weggeschmissen, ihre eigenen nie!“

„Jetzt seid doch mal still und schlaft“, befahl Socke, „Morgen wird ein langer Tag. Und ich will nicht am Ende noch vor lauter Müdigkeit ein Loch in der Ferse bekommen.“

Ringel flüsterte Socke ein zärtliches „Gute Nacht“ zu und schmiegte sich an sie. Dann träumte sie von einem langen Ausflug an Sockes Seite.

Waschtag (Teil II)

Es war eine anstrengende, lange Fahrt gewesen. Ringel, Socke und die Unterwäsche waren so müde, dass sie sich nach der Reise erst einmal ein paar Tage im Dreckwäschesack ausruhen mussten. Sie spürten ihr Alter nun doch ein wenig und waren froh, dass die Menschin sie noch am selben Abend in eine Plastiktüte steckte und diese unter dem kleinen Schreibtisch abstellte, wo es warm und dunkel war. Ringel und Socke hielten sich nun nicht mehr aneinander fest, sie lagen lose und entspannt aufeinander. Ein Zipfel des Spitzenhöschens hatte sich auf Sockes Ferse gelegt und war dort einfach eingeschlafen. Ringel äugte ab und an ein wenig misstrauisch zu den beiden herüber, doch dann sah sie ein, dass es eigentlich keinen Grund zur Eifersucht gab und schlief einfach weiter. Langsam aber sicher kamen immer mehr Kleidungsstücke dazu und es wurde allmählich ein wenig eng in der Plastiktüte. Es störte aber niemanden, jedenfalls nicht bis zu dem Zeitpunkt, als ein paar große, stinkende Tennissocken in Größe 43/44 dazustießen.

„Oh nein“, motzte der BH, „Geht in eine andere Ecke. Fasst mich bloß nicht an. Oder noch besser, sucht euch einen anderen Wäschesack.“

„Ist doch nicht unsere Schuld, dass wir so stinken“, jammerte die linke Tennissocke, „Wenn der Alte uns nicht ab und zu freigibt, können wir doch nichts dafür.“

„Hey, hört auf zu streiten“, rief das Unterhemd, das ganz oben auf dem Stapel Dreckwäsche lag, „Ich glaub, jemand hat von der Waschmaschine gesprochen!“

Ringel konnte es kaum glauben, als sie das Wort Waschmaschine hörte und zupfte aufgeregt an Sockes Ferse, wobei sie die schlafende Unterhose unsanft weckte.

„Socke, Socke, wir werden gewaschen! Ein warmes Schleuderbad! Vierzig Grad und Perwoll! Und Weichspüler von Lenor!“

Ringel, Socke und all die anderen hatten nicht einmal Zeit, sich richtig auf die willkommene Abwechslung zu freuen, als es auch schon los ging: der Wäschesack wurde aus der Ecke geholt, auf das Bett gestülpt und sie wurden in weiße, bunte und dunkle Dreckwäsche sortiert. Ringel wurde auf den Haufen mit den bunten Sachen und in die Wäschetrommel geworfen. Sie hatte es sich gerade auf einem blauen, verwaschenen T-Shirt bequem gemacht, als sie merkte, dass Socke nicht in ihrer Nähe war.

„Socke? Wo bist du?“

Niemand antwortete.

„Shirt, hast du Socke gesehen?“

Das T-Shirt zuckte mit den Schulternähten. „Nein, aber mach dir keine dünnen Fäden. Sie ist sicher in der dunklen Wäsche gelandet. Die Menschin nimmt es nicht so genau, aber verloren gegangen ist bis jetzt ja noch niemand.“

Das stimmte zwar, trotzdem hatte Ringel kein gutes Gefühl bei der Sache. Schließlich waren sie ja nicht zu Hause, wo man sich sicher sein konnte, dass niemand vergessen würde. Doch bevor sie genauer über ihr und Sockes Schicksal nachdenken konnte, bekam sie auch schon einen Platsch vierzig Grad warmen Wassers ab und wurde ordentlich eingeseift. Sie verschluckte sich und lachte. Dann drehte sie sich eine Stunde lang mit den anderen Kleidungsstücken in der Waschmaschine, bis ihr ganz schwindlig war.

„Oh Gott, ist mir schlecht!“ jammerte das schwarze Unterhemdchen und krallte sich an dem blauen T-Shirt fest.

„Ich glaub, du bist eher ein Handwäschetyp, oder?“, fragte Ringel. Das Hemdchen tat ihr jedes Mal leid, wenn ihm beim Schleudergang so übel wurde.

„Ja, es stand ja auch auf meinem Etikett“, heulte es, „Aber sie hat es einfach abgeschnitten. Sie hat keine Lust, mich mit der Hand zu waschen. Dabei habe ich doch eine so furchtbar empfindliche Seidenmischung…“

„Na komm, das wird schon wieder. Komm, häng dich ein bisschen neben mich“, lud das T-Shirt es ein. Ringel beobachtete die beiden. Sie hatten schon immer nebeneinander in der unteren Schublade gelegen und kannten sich richtig gut. Außerdem war Ringel sich sicher, dass das T-Shirt ein wenig in das schwarze Seidenhemdchen verliebt war. Kein Wunder, es war ja auch wirklich hübsch anzusehen und hatte einen sehr weichen, edlen Stoff. Ringel ließ sich neben die anderen Socken hängen. Es störte sie nicht, ein wenig Luft zu schnappen, neben dem Heizkörper war es schließlich angenehm warm. Außerdem bekam sie dort mit, was die Menschen so trieben und wie sie Weihnachten feierten. Aber ein wenig traurig wurde sie schon, als sie hörte, dass die dunkle Wäsche erst in den nächsten Tagen gewaschen werden würde. Das hieß, dass sie es eine ganze Weile ohne Socke aushalten musste.

 

Sehnsucht (Teil III)

Ringel war verzweifelt. Seit drei Tagen lag sie einsam im Koffer. Nicht, dass sie alleine gewesen wäre, schließlich war da ja noch die ganze frische Wäsche, die die Menschen bis zum 28. Dezember nicht benutzt hatten. Aber was brachten ihr denn die ganzen alten Klamotten, wenn Socke nicht bei ihr war? Niemand konnte ihr sagen, wo sie war. Einmal hatte sie Hoffnung geschöpft, als ihr eine der Hosen aus dem Separée des Koffers zurief, dass ein neuer Schwung Wäsche gewaschen worden war. Doch auch dieses Mal kam Socke nicht zu ihr zurück. Die Menschin hatte wohl doch nur ihre Wollpullis gewaschen. Dann ging das Gerücht um, dass die Waschmaschine kaputtgegangen sei und der nächste Waschtag erst in drei oder vier Tagen in Deutschland stattfinden würde. Es war zum Verzweifeln. Ringel konnte sich nicht daran erinnern, in ihrem ganzen Strumpfleben jemals so traurig gewesen zu sein. Sie schloss die Augen und dachte zurück an den Tag, als sie, Socke und die anderen beiden Sockenpaare noch bei NKD im Wühlkorb lagen und die Menschin sie gekauft hatte. Sie waren weit unten gelegen, unter den Socken in Größe 35 bis 38. Die Menschin schien nicht aufgeben zu wollen, sie wühlte und suchte, bis sie endlich mit einem leisen Freuden-Ja! auf das Dreierpack in Größe 39 bis 42 gestoßen war. Sie hatte sie hochgehalten, sie noch einmal angeschaut und ein richtig glückliches Gesicht gemacht. Dann hatte sie die sechs Socken zur Kasse getragen und bezahlt. Sie wurden in eine rote Plastiktüte gesteckt und aus dem Laden getragen. Draußen war es kalt gewesen, sie hatten ein wenig gefroren, aber der Weg bis nach Hause war nicht weit gewesen. Dann wurden sie aus der Tüte genommen und auf einen Tisch gelegt, wo die Menschin ihnen sofort die lästigen Etikette abgeschnitten hatte. Sie hatte die drei Sockenpaare so zusammengelegt, dass sie einander umschlangen. Es war der glücklichste Tag in Ringels und Sockes Leben gewesen: sie schworen einander, nie wieder getrennte Wege zu gehen. Und nun hatte das Schicksal ihnen so böse mitgespielt und sie auseinander gerissen.

„Nun beruhig dich mal wieder, Ringel. Socke wird ganz sicher nicht hierbleiben. Morgen ist Abfahrt, dann wird sie sicher gleich gewaschen, aufgehängt und dann seid ihr wieder vereint. Hör auf zu weinen, sonst bekommst du noch nasse Bündchen und musst selbst wieder in die Waschmaschine.“

Ringel hatte gar nicht gemerkt, dass sie vor lauter Sehnsucht weinte. Als nun das freundliche Schlafshirt ihr diesen Ratschlag gegeben hatte, schluchzte Ringel noch ein wenig lauter auf.

„Aber sie ist nun schon eine ganze Woche weg!! Ich halte das nicht mehr aus! Ich vermisse sie so sehr“, heulte Ringel.

„Das kommt dir nur so vor, eigentlich sind es erst fünf Tage“, sagte das Schlafshirt und wiegte Ringel ein wenig hin und her, fast so, als wolle es Ringel zum Einschlafen bringen.

Plötzlich hatte Ringel einen Einfall. Und wenn ich nun so viel weine, bis ich ganz nass bin? Dann muss die Menschin mich doch wieder in die Schmutzwäsche geben… Der Gedanke gefiel Ringel so gut, dass sie geschlagene dreißig Minuten weinte, bis sie durch und durch nass war. Natürlich wurde nicht nur sie davon nass, sondern auch die Unterhosen und das Schlafshirt, die sich mit ihr im Koffer befanden.

„Ach Ringelchen. Was soll denn die Menschin denken, wenn sie nichts Trockenes mehr zum Anziehen findet?“ fragte das Schlafshirt mit seiner sanften, tiefen Gutenacht-Stimme.

„Das wird ihr eine Lehre sein. Socken darf man nicht einfach so trennen“, antwortete Ringel trotzig.

Am nächsten Morgen wurde der Koffer geöffnet. Die Menschin machte tatsächlich ein sehr verdutztes Gesicht, als sie einen Haufen feuchter, leicht müffelnder Wäsche vorfand. Sie brummte etwas, nahm Ringel, das Schlafshirt und die Unterwäsche heraus und schmiss sie unvorsichtig in eine Plastiktüte. Ringel verhielt sich still und wartete ab. Als sie jedoch sah, dass die Menschin andere Kleidungsstücke in den Koffer legte, erschrak sie furchtbar: unter den frischgewaschenen Wollpullovern lugte Sockes gestreiftes Bündchen hervor. Doch bevor Ringel ihr etwas zurufen konnte, war der Koffer auch schon wieder geschlossen worden.

 

 Die Rückkehr (Teil IV)

Socke war so sauer, dass sich der Gummi in ihrem Bündchen kräuselte. Sie hatte sich todesmutig mit den Wollpullis in eine zwanzig Grad Wäsche gestürzt, um so schnell wie möglich wieder bei Ringel zu sein. Zwanzig Grad, das musste man sich mal vorstellen, für einen Strumpf, der sonst bei vierzig Grad gewaschen wurde, war das viel zu kalt, hinzu kam dieses Feinwaschmittel, dessen Duft Socke nicht ausstehen konnte. Den Wollpullovern mochte es ja gefallen, nach langweiligem Perwoll zu riechen, aber sie selbst war Dash und einen ordentlichen Schuss Lenor gewöhnt, da konnte sie mit diesem nichtssagenden Feinwaschmittel nun wirklich nichts anfangen. Und was hatte Ringel getan? Wenn sie den Erzählungen der amerikanischen Jeanshosen glauben durfte, hatte Ringel erst vor lauter Verzweiflung und dann aus Rache des gesamten Koffer vollgeheult und mit ihren Tränen die gesamte Unterwäsche und die Pyjamas durchnässt, sodass sie erneut gewaschen werden mussten. Hätte Ringel nicht einfach noch einen Tag lang auf sie warten können? Andererseits rührte Ringels Sturmflut Socke sehr, nie hätte sie sich einen solch mutigen Schritt von ihrer buntgestreiften Freundin erwartet.

Auch die Fahrt nach Deutschland war lang, im Kofferraum des Autos war es kühl, draußen herrschten eisige Temperaturen. Ringel lag im Dreckwäschesack neben dem schlafenden, müffelnden Schlaftshirt und wünschte sich zu Socke, die nun nur einige Zentimeter neben ihr lag, von der sie aber durch eine dicke Hartplastikschicht getrennt war. Dennoch war Ringel sich sicher, dass sie spätestens am zweiten Tag bei den Eltern der Menschin gewaschen und aufgehängt werden würde. Und wer weiß?, vielleicht würde die Menschin sie ja sogar anziehen und mit ihnen einen Ausflug in ihre alte Heimat machen: in den NKD, wo sie sie gekauft hatte. Sie stellte sich vor, wie sie sie morgens anziehen würde, dann hinein in die Klamotten und in die Schuhe, dann mit fröhlichen Sprüngen die Holztreppen herunter, und auf ging es ins Zentrum. Heimatluft schnuppern, durch die belebte Innenstadt spazieren, an den Schaufenstern stehen bleiben und dann hinein in den Laden, wo sie einst ganz unten auf dem Wühltisch gelegen hatten… eine allzu schöne Vorstellung!

Plötzlich ging der Kofferraum auf und kalte Luft strömte hinein. Der Koffer und einige Tüten wurden ausgeräumt, fröhliche Menschenstimmen wurden laut. Dann wurde der Kofferraum wieder geschlossen.

„Die dreckigen Sachen wasche ich dann zu Hause“, sagte die Menschin zu ihrem Mann.

„Ist gut. Sind ja nur noch ein paar Tage.“

Ringel erschrak, ihre Spitze verkrampfte sich. Dann stupste sie heftig mit der Ferse gegen das Schlaftshirt.

„Die… die wollen uns nicht waschen…“ Ihre Stimme zitterte, wieder rollten Tränen über ihren gestreiften Schaft. Ehrliche Tränen, keine, die sie aus Trotz zerquetschte.

Das Schlaftshirt sah sich um, nahm Ringel in den Arm und versuchte, ihr gut zuzusprechen.

„Vielleicht überlegt sie es sich ja noch einmal. Vielleicht gehen ihr ja die Socken aus. Dann wird sie dich suchen.“

„Nein!“, rief Ringel, „Sie wird wieder zu NKD gehen und sich neue kaufen! Sie kauft einmal im Jahr drei paar neue Socken! Das hat sie noch jedes Jahr getan! Sie wird mich nicht suchen! Ich werde Socke nie wieder sehen, nie wieder!!“

Ringel war außer sich und kämpfte sich durch die feuchten Kleidungsstücke an die Oberfläche des Wäschesacks. Dunkelheit und Kälte empfingen sie. Es war ihr egal. Ringel wollte nicht mehr leben. Am liebsten hätte sie sich am losen Faden der alten, hellgrünen Unterhose aufgehängt.

*

Die Tage vergingen, eine ganze Woche, eine Ewigkeit. Ringel im Wäschesack, Socke im Koffer. Ringel in Gedanken bei Socke, Socke in Gedanken bei Ringel. Wut, Enttäuschung, Traurigkeit. Endlose Stunden. Der Versuch, nicht an das Schicksal zu denken, sondern an eine wunderschöne Reise. Gemeinsame Stunden in der Wäscheschublade, ineinander verschlungen. Ringel und Socke forever.

Und plötzlich war der Urlaub vorbei. Der Kofferraum wurde geöffnet, der Wäschesack beiseite geschoben und in die hintere Ecke gequetscht, der Koffer mit einem kräftigen Schubs daneben gehievt. Und noch eine Tüte wurde dazugestellt, dieses Mal ein wenig behutsamer. Der Geruch von französischem Käse machte sich breit.

„Und da behaupten sie, wir würden nach Käse stinken!“, lamentierte eine weiße Tennissocke, die oben auf dem Wäschesack lag, „Das ist ja eine Zumutung, dieser Camembert!“

„Ja, grauenhaft, aber ich glaube, das ist eher ein reifer Münsterkäse“, antwortete die alte, hellgrüne Unterhose. „Selbst ich habe in meinen schlimmsten Zeiten nie so gestunken!“

Ringel war der Gestank egal. Wurde erst einmal der Käse eingepackt, hieß es, zurück nach Hause, in die Waschmaschine, in die Schublade neben dem Bett und somit zurück zu Socke. Alles würde gut werden, Stinkekäse hin oder her. Endlich ein Lichtblick im Leben der traurigsten Ringelsocke der Welt.

*

„Socke?“

„Ringel?“

„Ich bin hier!“

„Wo denn, ich sehe dich nicht!“

„Unter der grauen Strumpfhose!“

„Ich komm hier nicht weg… versuch, zu mir zu kommen!“

„Ich kann auch nicht! Hier ist kein Platz mehr… ich bekomme kaum Luft!“

„Macht ihr Platz! Aus dem Weg, ihr Neustrümpfe!“

„Socke… es hat keinen Sinn… Ich schaffe es nicht!“

Mit einem Ruck öffnete sich die Schublade. Eine Hand griff hinein.

 

„Ach hier seid ihr…“, flüsterte die Menschin und nahm erst Socke auf, dann griff sie unter die graue Strumpfhose, die Ringel eingeklemmt hatte.

„Na endlich hab ich euch wieder…“, sagte sie leise und betrachtete die beiden Damenstrümpfe einen Moment lang, bevor sie sie wieder zusammenlegte und vorsichtig neben die Wollsocken legte.

 

„Socke?“

„Ja, mein Ringelchen?“

„Ich hatte in diesen furchtbaren Tagen einen wunderschönen Traum.“

„Erzähl mir davon…“

„Wir haben Urlaub gemacht.“

„Und wo?“

„Im fernen Calzedonia…“

Ende