14. Juli
Guten Abend.
Ich versuche gerade, zum ersten Mal in meinem Leben ein Tagebuch mit sinnvollen Worten zu füllen. Man bedenke, dass ich inzwischen fünfundvierzig Jahre alt bin und außer Steuererklärungen und Officemails in meinem bisherigen Leben vielleicht zehn Postkarten geschrieben habe. Es ist nicht einfach, plötzlich über persönliche Dinge zu schreiben, mal abgesehen von „Schönes Wetter, es geht mir gut, Grüße und bis bald, dein Paul.“. Ja, ich muss zugeben, ich tue mich gerade richtig schwer damit.
Vielleicht wäre es sinnvoll, mich erst einmal vorzustellen. Ich heiße Paul. Ich wohne und arbeite in einer kleinen Stadt in Südtirol, in der jeder jeden kennt. Und in der jeder alles von jedem weiß, egal, ob es denjenigen etwas angeht oder nicht. Ich arbeite als Steuerberater. Gähn, werden Sie sagen, was für ein Langweiler. Ein wahrer Sesselfurzer, was will der mir schon von seinem Leben zu erzählen haben. Warten Sie es einfach ab.
Ich schreibe ein Tagebuch und mir ist durchaus bewusst, dass die förmliche Anrede in diesem Rahmen nicht unbedingt üblich ist. Aber wen soll ich denn anschreiben, das Tagebuch selbst? Das ist doch kindisch. Ein Buch kann man schreiben, ein Buch kann man lesen, aber man kann nicht mit ihm sprechen. Oder gar Gefühle für ein Buch entwickeln. „Sie werden dieses Buch lieben“ – diese Aussage kann ich nicht ausstehen. Man kann ein Buch gut finden, es kann Emotionen in uns hervorrufen, alles schön und gut. Aber gegenüber einem Buch von Liebe sprechen? Nein. Ich kann einen Menschen lieben. Ich kann mich selbst lieben. Ich kann im weitesten Sinne auch ein Haustier lieben. Aber ich kann keine Ansammlung von Wörtern auf unzähligen Blättern oder gar eine Pdf-Datei lieben. Das ginge zu weit.
Ich schweife ab, mein ewiges Manko manifestiert sich bereits auf der ersten Seite dieses Tagebuchs. Ich bitte um Pardon. Wie gesagt, ich heiße Paul, ich bin Steuerberater, ich wohne in Südtirol und bin eigentlich ein eher langweiliger Typ. Mit einer eher langweiligen Ehefrau, die seit Monaten nicht mehr viel von mir wissen will. Und ich bin ein langweiliger Typ mit einer aufregenden Geliebten, die eine ganze Menge von mir wissen will. Diese Geliebte ist eine Augenweide, die schönste Frau, die weichste Frau, die wohlduftendste Frau, die süßeste Frau, die mir in meinem Leben je begegnet ist. Naja, abgesehen von der Kinderfrau meines kleinen Bruders, in die ich mich mit vierzehn Jahren verknallt habe. Aber die hat meine Liebe nie erwidert. Trotz der Schokopralinen, die ich ihr mit meinem Taschengeld im Supermarkt gekauft hatte.
Meine Frau heißt Klara. Meine Geliebte heißt Bianca. Und ich muss mich nun wohl zwischen der Transparenten und der Weißen entscheiden. Glauben Sie mir, der Weg zu dieser Entscheidung ist ziemlich holprig. Ich danke Ihnen, dass Sie ihn mit mir beschreiten. Natürlich können Sie zwischendurch abspringen, wer wäre ich denn, Sie aufzuhalten? Sie können mich natürlich auch sofort zum Teufel schicken, ich könnte es Ihnen nicht verdenken. Oder Sie kommen eben mit und lernen mich und meine beiden Frauen kennen. Transparent oder Weiß, was sagen Sie?
16.Juli
Guten Abend.
Sind Sie noch wach oder schlafen Sie schon? Ich frage nur, weil es bereits nach dreiundzwanzig Uhr ist, da könnte es natürlich sein, dass Morpheus Sie bereits in seinen Armen wiegt. Ich bin noch wach, wie Sie sehen, und ich werde heute Nacht vermutlich auch nur wenig schlafen, falls ich überhaupt einschlafen sollte. Das liegt einerseits an der Sommerhitze, andererseits an der Schnake, die ich nicht erwische und drittens an dem unbequemen Sofa, das nun mein Schlafplatz ist. Klara hat mich nämlich aus dem Ehebett verbannt.
Wir waren heute Abend gemeinsam essen. Sie schöpfen nun bestimmt Hoffnung, dass ich mir und Klara eine neue Chance geben möchte, doch Sie irren sich. Darum ging es nicht. Ich wollte nur eines: Klaras Aufmerksamkeit. Und zwar ihre ganze Aufmerksamkeit ohne störende Freundinnen, ohne den lästigen Yogakurs, den sie seit Kurzem wie vernarrt besucht und ohne ihre Diätpläne. Sie hat nämlich sonst nicht viel im Kopf. Naja, von ihrer Arbeit einmal abgesehen. Jedenfalls habe ich meine Frau in ein nobles Restaurant in Brixen ausgeführt und konnte tatsächlich einige klärende Worte mit ihr wechseln. Ich hatte mir natürlich erhofft, dass sie mit Verständnis oder wenigstens sachlich reagieren würde, doch dem war nicht so.
Ich sagte Klara, dass ich die Scheidung wolle. Klara sagte zunächst nichts, sie starrte mich einfach nur an. Dann fragte sie mich, ob ich spinne.
„Nein“, sagte ich, „ich spinne nicht. Ich möchte, dass wir uns scheiden lassen. Es ist aus“, sagte ich.
Klara nahm ihr Glas mit dem teuren Lagrein und spülte ihn in zwei kräftigen Schlucken herunter. Sie sprach nicht mit mir, sie aß einfach nur weiter, sie reagierte völlig mechanisch. Fast wie ein Computer, dessen Software nicht reagiert, weil die Festplatte überlastet ist. Ich wartete darauf, dass sie Fragen stellte. Wollte sie denn nicht einmal wissen, warum ich mich scheiden lassen wollte? Ich war ihr also tatsächlich egal, war meine Schlussfolgerung. Ich war erleichtert und enttäuscht und aß mein Steak zu Ende. Es war so zäh wie meine Ehe.
Als wir schweigend nach Hause kamen und ich mich neben meine Nochehefrau legen wollte, sagte sie nur, geh weg.
„Wohin?“ fragte ich sie überrascht.
„Das ist mir egal. Aber bleib nicht bei mir. Dein Platz ist nun nicht mehr bei mir. Schließlich willst du mich ja nicht mehr.“
Ich erhob mich und nahm meinen neuen Schlafplatz auf dem Sofa ein. Das Sofa vermittelt mir ein seltsames Gefühl: Freiheit. Die Freiheit, zu gehen. Die Freiheit, meine Frau Klara zu verlassen und zu Bianca zu gehen. Von der durchsichtigen Frau zu der weißen Frau. Ist ihnen eigentlich schon einmal der gehörige Unterschied zwischen Transparenz und Weiß aufgefallen?
23. Juli
Guten Abend.
Klara hat drei Tage und Nächte lang nicht mit mir gesprochen. Sie hat mich nicht einmal mehr angesehen. Gestern Abend hat sie mir in den paar Minuten, die wir miteinander in der Küche verbrachten, automatisch den Korkenzieher gereicht und mir die Gläser in die Hand gedrückt. Wortlos, aber immerhin eine gewohnte Geste, für die ich ihr dankbar war. Ich war ungeschickt und habe eines der Gläser auf den Küchenboden fallen lassen, es zersprang natürlich in tausend kleine Scherben. Ich wollte sie mit der bloßen Hand auflesen und schnitt mich. Klara beugte sich mit einem Tuch zu mir herunter und saugte das Blut von meinem rechten Zeigefinger. Plötzlich war da diese Wärme ihres Mundes an meinem Finger. Ich zuckte erst zusammen, nahm ihn aber nicht weg. Ich wünschte mir plötzlich, sie würde meine Fingerspitze nicht mehr loslassen. Der Moment war schnell vorbei, sie nahm ein Pflaster aus der Schublade und verband meinen Finger. Dann aßen wir wortlos. Später gingen wir schlafen, sie im Schlafzimmer, ich auf dem Sofa. Ich hätte das Pflaster längst abnehmen können, aber ich wollte nicht, obwohl es vom häufigen Händewaschen und den alltäglichen Berührungen mehr als hässlich geworden ist.
Als ich heute Abend nach Hause kam, war Klara nicht da. Ich suchte nach ihr, hatte schon den Verdacht, sie sei heimlich zu einer ihrer Freundinnen gezogen, doch ihre Sachen waren alle noch hier. Nur sie nicht. Die Wohnung war leer, warm, kalt. Ich setzte mich vor den Fernseher und schaute einen Krimi an. Ich wartete, ich konnte nicht schlafen. Ich wollte mich auf den Film konzentrieren, aber ich konzentrierte mich nur auf das schmutzige Pflaster an meinem rechten Zeigefinger. Gegen zwei Uhr nachts kam Klara dann nach Hause. Sie war bester Laune und stark betrunken. Ich brachte sie ins Bett, zog ihr die Schuhe aus und deckte sie zu. Sie sprach noch immer nicht mit mir, aber das war egal. Ich war einfach nur froh, dass sie wohlbehalten wieder nach Hause gekommen war.
Bianca habe ich seit einigen Tagen nicht mehr gesehen. Ich habe ihr auch nicht geschrieben, sie ist derzeit bei einem Kurs in Mailand, da will ich nicht stören. Ich habe auch keine Lust, sie jetzt mit meiner neuen, seltsamen Freiheit zu überrumpeln. Ich muss mich erstmal selbst mit ihr zurechtfinden. Es ist gar nicht so einfach, sie zu genießen, glauben Sie mir.
Ich muss ihnen etwas gestehen. Ich habe heute Abend zwar den Krimi im Fernsehen laufen lassen, ich habe ihn aber nicht im Geringsten verfolgt. Ich habe mir stattdessen das Fotoalbum unserer Hochzeit angesehen. Ein Album voller glücklicher Gesichter. Ich musste an den Priester denken, vor dem wir uns die ewige Liebe versprochen hatten. Aber Sie wissen ja, es ist eben so eine Sache mit der ewigen Liebe.
31. Juli
Guten Abend.
Nein, es ist kein guter Abend, für mich zumindest nicht. Ich war nach der Arbeit noch ein wenig im Zentrum. Mir war nach einem Eis und einem kleinen Spaziergang. Ich ging durch Brixens kleine Lauben, betrachtete die Auslagen in den Schaufenstern und aß ein Vanilleeis. Dann schlenderte ich über den Domplatz und suchte Schatten im Kreuzgang. Da sah ich sie: Klara. Sie war nicht allein, sie spazierte vor mir Hand in Hand mit einem Mann. Ich war außer mir vor Wut. Ich rannte zu den beiden und nahm Klara bei der Schulter, wirbelte sie zu mir herum, sie schrie. Dann sah ich in ihr Gesicht und erkannte, dass die Frau nicht Klara war. Ich entschuldigte mich tausendmal bei dem zu Tode erschrockenen Pärchen und suchte das Weite. Ich wusste nicht wohin mit meiner Scham und meiner Eifersucht, da rannte ich einfach in den Brixner Dom und suchte mir ein stilles Eckchen. Ich konnte mich nicht mehr zusammenreißen und weinte wie ein Schlosshund. Die Touristen sahen mich an wie einen Verrückten, ich wandte mich ab und suchte Schutz in einem der Beichtstühle. Der Pfarrer hatte es wohl bemerkt und wollte mir prompt die Beichte abnehmen. Er fragte, was ich zu beichten habe.
Ich schluchzte: „Dass ich meine Frau liebe.“
Er tröstete mich, in dem er sagte, dass Gott es mir nachsehen würde.
Wie ein geprügelter Hund ging ich nach Hause. Klara war wie immer noch nicht da. Wo sie nur wieder steckte? Auf meinem Handy fand ich fünfzehn unbeantwortete Anrufe von Bianca und einige wütende Nachrichten. Ich antwortete ihr, ohne nachzudenken, dass unsere Affäre mit dem heutigen Tage zu Ende sei. Sie hat mir nicht geantwortet.
Einige Stunden später kam Klara nach Hause. Als sich die Tür öffnete, sprang ich vom Sofa, rannte zu ihr und schloss sie in meine Arme. Sie war völlig verdattert und versuchte, sich loszumachen. Ich ließ sie nicht los, ich konnte gar nicht genug von ihrem verschwitzten Hals bekommen. Nicht dass sie denken, ich hätte sonst etwas mit ihr gemacht. Nein, ich habe sie einfach nur gehalten und konnte sie nicht mehr loslassen.
Klara begann endlich wieder, mit mir zu reden. Sie sprach so viel, von den letzten Monaten, von den letzten Jahren, in denen wir uns so weit voneinander entfernt hatten. Sie erzählte mir von ihrem Yogakurs. Ich fragte sie, ob ihr der Yogalehrer gefiele. Sie lachte schallend und konnte gar nicht aufhören. Als sie sich beruhigt hatte, erklärte sie mir, dass sie die Lehrerin sei. Es war mir furchtbar peinlich. Ich drückte sie erneut an mich und entschuldigte mich für meine Abwesenheit, die ich ihr lange Zeit angelastet hatte. Was war ich nur für ein Narr.
Ich wünsche all denen, die bei mir geblieben sind, alles Gute für Ihre Ehe. Ich habe übrigens gehört, dass laut einer Statistik im letzten Jahr sehr viel weniger Ehen in Südtirol getrennt oder geschieden wurden. Klara, Bianca und mich hat es nie gegeben, aber vielleicht können wir diese Statistik ja noch ein wenig aufrecht erhalten.
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