Bemerkenswert

Kommissar Spitzweg, Erich und Pink Lady

Ein Mini-Krimi zum

Internationalen Tag der Frau

Teil Eins

Bille betrachtete sich im Spiegel. Ihre Haut hatte einen goldbraunen Schimmer angenommen, die kleinen Fältchen um ihre blauen Augen zeigten winzige letzte weiße Spuren. Seit zwei Monaten lebte sie nun hier am See, sie hatte sich so sehr danach gesehnt, das Plätschern der kleinen Wellen zu hören, ihr Glitzern in der Herbstsonne zu beobachten, bevor er im Winter zufrieren würde. Hier war sie nun, hatte ihr altes Leben mit der großen Last einfach hinter sich gelassen. Aus der verfolgten Sibylle war die freie Bille geworden. Sie wich von ihrem Spiegelbild ab, stieg die kleinen Stufen ihres Hausboots empor, legte sich an Deck und schloss die Augen. Leichter Wind kam auf, das Boot wog sie in halben Schlaf.

Zwei Jahre. Ein Mann hatte sie zu seiner Liebsten auserkoren, ohne jemals danach zu fragen, ob sie diese Liebe erwidere. Am Anfang war eigentlich alles halb so schlimm gewesen, sie hatte ihm sogar das Leben gerettet. Rettungseinsatz auf der Autobahn, er hatte seinen Wagen gegen einen Brückenpfeiler gefahren. Selbstmordversuch, Sekundenschlaf? Man wusste es nicht. Der Mann erlitt schwere Verletzungen, musste reanimiert werden, kam ins Krankenhaus, Gedächtnisverlust. Als er wieder aufwachte, war seine Vergangenheit ausgelöscht und er verliebte sich Hals über Kopf in seinen Schutzengel.

Nach mehreren Monaten durfte er das Krankenhaus wieder verlassen. Er verabschiedete sich bei Sibylle mit roten Rosen, sie freute sich und wünschte ihm alles Gute für die Zukunft. Auf seine Zuneigung war sie nicht eingegangen, hatte ihn aber stets mit Freundlichkeit bedacht. Eine Woche später wartete er nach Dienstschluss vor dem Krankenhaus auf sie und lud sie in ein Restaurant ein.

Nach dem Abendessen hatte er sie nach Hause begleitet, sie galant bis zur Haustür ihres Mehrfamilienhauses gebracht und sich dann verabschiedet. Sibylle hatte sich bedankt und kurz überlegt, ihm ein Küsschen zu geben, sich dann aber umgedreht. Nein, keine Affäre mit Patienten, auch keine mit ehemaligen Patienten. Er war eh nicht so ganz ihr Typ und sie verspürte keine Schmetterlinge im Bauch. Es war einfach nur ein netter Abend gewesen.

Zwei Wochen lang war nichts passiert. Sibylle hatte ihn eigentlich schon längst wieder vergessen, als sie in ihrem Briefkasten zwei Eintrittskarten ihrer Lieblingsband fand. „Nimmst du mich mit?“, stand auf einem Post-it, den er auf die Karten geklebt hatte. Wie war er an diese Tickets gekommen? Das Konzert war seit Monaten ausverkauft. Innerlich jubelte sie, wusste aber nicht so recht, wie sie sich dafür bedanken sollte. Seine Telefonnummer hatte sie nicht.

Teil Zwei

Kommissar Erich Spitzweg schritt langsam über den Holzsteg, der durch das Biotop am Seeufer führte. Die Luft war noch warm, die Herbstsonne erhitzte den See, es roch nach den ersten fallenden Blättern. Eine Ente flog auf, als Spitzweg stehen blieb. Irgendwo gluckste es, als ein Karpfen nach Luft schnappte. Die Touristin, die den Leichnam entdeckt hatte, stand mit blassem Gesicht an der Brüstung, die den Holzsteg umgab. Ihre Augen waren geweitet, sie zitterte und hielt sich den Bauch.

  • Bringen Sie sie weg, bat Spitzweg seinen Kollegen., Bevor sie uns noch ins Wasser kippt oder den Tatort versaut.

Die Tauchereinheit hatte die Wasserleiche geborgen und bereits in den Aluminiumsarg gelegt. Erich Spitzweg hielt sich sein mit Lavendelöl getränktes Taschentuch vor Mund und Nase und betrachtete ihn eingehend. Auf den ersten Blick konnte er keine Schuss- oder Schnittwunden feststellen. Auch sein Hals war anscheinend unversehrt.

  • Woran ist er gestorben?, fragte Spitzweg.
  • Erst obduzieren, antwortete der Gerichtsmediziner.
  • Seit wann ist er tot?
  • Mindestens vierundzwanzig Stunden, er ist genauso kühl wie der See.

Eine Wasserleiche behielt viele Geheimnisse für sich, die meisten Beweise versanken in den glitzernden Wellen. Spitzweg blieb, nachdem die Kollegen von der Spurensicherung abgezogen waren. Er beschloss, den See einmal zur Gänze zu umrunden, vielleicht hatte das stille Wasser ja etwas an Land geschwemmt.

Die Sonne wurde schwächer, als Spitzweg das Biotop verließ und die breite, befahrbare Uferstrecke zwischen den Apfelbäumen betrat. Der Herbstduft mischte sich mit dem der gefallenen Äpfel. Spitzweg hob einen auf und biss hinein. Pink lady, dachte er, und sah einer jungen Frau nach, die in einem strahlend rosafarbenen Kleidchen noch einen Abendspaziergang machte. Die junge Frau drehte sich zu ihm um, nickte freundlich und erstach ihn fast mit ihren blauen Augen.

Teil Drei

Sibylle hatte nach dem Fund der Konzerttickets notgedrungen beschlossen, einfach nichts zu tun. Was hätte sie auch machen sollen? Sie kannte nur seinen Namen, die Datei der ehemaligen Patienten durfte sie ohne die Zustimmung ihrer Vorgesetzten nicht öffnen. Sie ließ die Tage bis zum Konzert vergehen und ging davon aus, es alleine zu besuchen. Als sie an besagtem Abend vor die Haustür trat, war niemand da. Sie sah sich nach einem Auto um, fand aber keines. Sie machte sich auf den Weg zum Busbahnhof, auch hier konnte sie ihren Gönner nirgendwo entdecken.

Sie genoss die Musik und die Stimmung, das Konzert war ausverkauft, ein voller Erfolg. Wie sehr hatte sie die Lieder dieser Gruppe vermisst, wie sehr die raue Stimme des Frontsängers, der in seinen Liedern die Liebe verteufelte. Dann kam es, das langsame Stück, Sibylle schloss die Augen, ihr Herz schlug im Takt mit, sie sang leise, wiegte ihre Hüften, bemerkte nicht einmal die Hände, die sich um ihr Becken legten. Sie tanzte, fühlte nichts in ihrem Rausch, bis eine sanfte Stimme in ihrem Ohr sie zusammenzucken ließ.

  • Du hast mich nicht mitgenommen.

Sibylle schrie auf vor Schreck, drehte sich brüsk um und starrte in das Gesicht ihres ehemaligen Patienten.

  • Ich…, versuchte sie, sich zu erklären.
  • Du bist undankbar, Sibylle.
  • Aber… ich habe dich gesucht…, stammelte sie.
  • Sieh dich um. Und sieh dich vor.

Mit diesen Worten verschwand er in der Menschenmenge. Sibylle blieb wortlos und mit pochendem Herzen zurück. Undankbar? Sie verspürte das dringende Bedürfnis, ihm hinterher zu rennen und ihm die Meinung zu sagen. Dann kam die Unsicherheit, gefolgt von der ersten Angst. Diese letzten zwei Sätze: Sieh dich um und sieh dich vor.

Mulmig begab sie sich auf den Heimweg. Als sie vor ihrer Haustür stand, konnte sie ihren Schlüssel nicht sofort finden und bemerkte, dass die Tür nur angelehnt war. Sie hatte doch abgeschlossen, da war sie sich sicher.

Teil Vier

 „Hauptkommissar Erich Spitzweg“, sagte er laut und betrat den Holzsteg, der im See endete. Die junge Dame in pink saß dort, die Füße baumelten in den glitzernden Abendwellen.

„So so“, sagte sie, „Der Spitzweg-Erich. Was kann ich für Sie tun, Herr Hauptkommissar?“

Spitzweg schmunzelte, wie oft hatte er diesen Witz schon über sich ergehen lassen? Aus ihrem Mund jedoch klang er süßer und weniger bitter als das Kraut, das denselben Namen trug.

„Man hat hier im Biotop einen Toten gefunden. Da Sie ja hier weilen, wollte ich fragen, ob Sie vielleicht etwas beobachtet haben, Frau…?“

„Bille“, antwortete sie und streckte ihm die Hand entgegen. Als Spitzweg sie zum Gruße annahm, ließ sie ihn nicht los, sondern hielt sich an ihm fest, um aufzustehen. Mit einem Mal hatte sich der Abstand zwischen ihnen auf wenige Zentimeter reduziert. Er roch ihren Apfelatem. Pink Lady.

„Kommen Sie mit. Ich habe Hunger. Beim Essen erzähle ich Ihnen, was ich hier so tagtäglich beobachte.“

Spitzweg nahm ihre Einladung verblüfft an. Bei einem Glas Weißwein, gegrilltem Seebarschfilet und bunt gemischtem Gartensalat verliebte er sich in Bille.

„Ich beginne gerade ein neues Leben, Herr Spitzweg-Erich“, raunte sie, als sie sich von ihrem Gast verabschiedete. „Verraten Sie niemandem, dass ich hier bin. Auch Ihrer Leiche nicht.“

Weinseelig verabschiedete Spitzweg sich von ihr und träumte in dieser Nacht von seeblauen Augen.

Bille legte sich an Deck und sah hinauf in den herbstlichen Sternenhimmel. Eine verspätete Sternschnuppe huschte vorbei, dann noch eine. Sie dachte an jene Nacht nach dem Konzert, als sie ihre unverschlossene Haustür vorfand. Beunruhigt war sie eingetreten, hatte damit gerechnet, dass man ihr auflauerte. Von den räuberischen Banden hatte sie gehört, sie befürchtete, ausgeraubt worden zu sein. Doch nichts dergleichen war geschehen, alles war an seinem Platz, auch das wenige Bargeld in ihrer Schublade fehlte nicht. Sie schloss die Haustür mehrmals ab, legte sich ins Bett und fand doch keinen Schlaf. Mehrere Wochen vergingen, der Patient meldete sich nicht mehr. Bille beruhigte sich und vergaß ihn. Fast.

Teil Fünf

 „Kanntest du diesen Mann?“, fragte Spitzweg und legte Bille ein Foto der Leiche zu Lebzeiten vor. Er war der Polizei nicht unbekannt: man hatte ihn wegen Nötigung angezeigt. Bille nickte.

„Ja“, sagte sie. „Aus der Hölle.“

Bille erklärte sich, während das Hausboot auf den See hinausschaukelte. Sie sprach von dem schlimmen Autounfall, von dem Konzert, von seinen Avancen, von der offenen Wohnungstür. Erzählte ihm, wie er erst untergetaucht war und dann eines Abends inmitten von hundert roten Rosen in ihrer Wohnung saß und mit einem Ring um ihre Hand anhielt. Wie sie es schaffte, zu flüchten. Wie sie umzog, sich nicht mehr zur Arbeit traute und ihren Job verlor. Wie sie sich von ihren Freunden entfernte, bis sie nicht mehr nachfragten. Wie sie vereinsamt in eine andere Stadt zog und eines Tages eine Grußkarte von ihrem „Lieblingspatienten“ bekam.

Erich Spitzweg hörte ihr einfach nur zu. Er wusste, dass bald ein Geständnis folgen würde. Wind kam auf, am Horizont ballten sich dunkle Wolken zu einem heftigen Sommergewitter zusammen.

„Eines Tages besuchte ich meine Eltern. Als ich vom Spaziergang zurückkam, sagte meine Mutter, dass ein Freund von mir da sei. Da saß er dann, im Wohnzimmer, und prostete meinem Vater zu. Was für ein netter junger Mann, sagte meine Mutter, und bereitete das Abendessen zu. Ich hatte ihnen nichts von meinem Stalker gesagt, da ich sie nicht beunruhigen wollte.“

Die ersten dicken Tropfen klatschten auf Spitzwegs Kopf, sie stiegen unter Deck. Der Regen schlug gegen die Bootwände, der Wind schob es auf die Seemitte hinaus. Ein Blitz schlug irgendwo ein, es krachte, Bille erschrak und suchte Halt an dem Hauptkommissar. Spitzweg hielt sie, dann küsste er sie zum ersten Mal.

„Sprich nicht weiter, Bille. Ich werde morgen früh von Bord gehen. Und du wirst dir ein neues Gewässer suchen müssen.“

Paul und die Sache mit der ewigen Liebe

14. Juli

Guten Abend.

Ich versuche gerade, zum ersten Mal in meinem Leben ein Tagebuch mit sinnvollen Worten zu füllen. Man bedenke, dass ich inzwischen fünfundvierzig Jahre alt bin und außer Steuererklärungen und Officemails in meinem bisherigen Leben vielleicht zehn Postkarten geschrieben habe. Es ist nicht einfach, plötzlich über persönliche Dinge zu schreiben, mal abgesehen von „Schönes Wetter, es geht mir gut, Grüße und bis bald, dein Paul.“. Ja, ich muss zugeben, ich tue mich gerade richtig schwer damit.

Vielleicht wäre es sinnvoll, mich erst einmal vorzustellen. Ich heiße Paul. Ich wohne und arbeite in einer kleinen Stadt in Südtirol, in der jeder jeden kennt. Und in der jeder alles von jedem weiß, egal, ob es denjenigen etwas angeht oder nicht. Ich arbeite als Steuerberater. Gähn, werden Sie sagen, was für ein Langweiler. Ein wahrer Sesselfurzer, was will der mir schon von seinem Leben zu erzählen haben. Warten Sie es einfach ab.

Ich schreibe ein Tagebuch und mir ist durchaus bewusst, dass die förmliche Anrede in diesem Rahmen nicht unbedingt üblich ist. Aber wen soll ich denn anschreiben, das Tagebuch selbst? Das ist doch kindisch. Ein Buch kann man schreiben, ein Buch kann man lesen, aber man kann nicht mit ihm sprechen. Oder gar Gefühle für ein Buch entwickeln. „Sie werden dieses Buch lieben“ – diese Aussage kann ich nicht ausstehen. Man kann ein Buch gut finden, es kann Emotionen in uns hervorrufen, alles schön und gut. Aber gegenüber einem Buch von Liebe sprechen? Nein. Ich kann einen Menschen lieben. Ich kann mich selbst lieben. Ich kann im weitesten Sinne auch ein Haustier lieben. Aber ich kann keine Ansammlung von Wörtern auf unzähligen Blättern oder gar eine Pdf-Datei lieben. Das ginge zu weit.

Ich schweife ab, mein ewiges Manko manifestiert sich bereits auf der ersten Seite dieses Tagebuchs. Ich bitte um Pardon. Wie gesagt, ich heiße Paul, ich bin Steuerberater, ich wohne in Südtirol und bin eigentlich ein eher langweiliger Typ. Mit einer eher langweiligen Ehefrau, die seit Monaten nicht mehr viel von mir wissen will. Und ich bin ein langweiliger Typ mit einer aufregenden Geliebten, die eine ganze Menge von mir wissen will. Diese Geliebte ist eine Augenweide, die schönste Frau, die weichste Frau, die wohlduftendste Frau, die süßeste Frau, die mir in meinem Leben je begegnet ist. Naja, abgesehen von der Kinderfrau meines kleinen Bruders, in die ich mich mit vierzehn Jahren verknallt habe. Aber die hat meine Liebe nie erwidert. Trotz der Schokopralinen, die ich ihr mit meinem Taschengeld im Supermarkt gekauft hatte.

Meine Frau heißt Klara. Meine Geliebte heißt Bianca. Und ich muss mich nun wohl zwischen der Transparenten und der Weißen entscheiden. Glauben Sie mir, der Weg zu dieser Entscheidung ist ziemlich holprig. Ich danke Ihnen, dass Sie ihn mit mir beschreiten. Natürlich können Sie zwischendurch abspringen, wer wäre ich denn, Sie aufzuhalten? Sie können mich natürlich auch sofort zum Teufel schicken, ich könnte es Ihnen nicht verdenken. Oder Sie kommen eben mit und lernen mich und meine beiden Frauen kennen. Transparent oder Weiß, was sagen Sie?

 

16.Juli

Guten Abend.

Sind Sie noch wach oder schlafen Sie schon? Ich frage nur, weil es bereits nach dreiundzwanzig Uhr ist, da könnte es natürlich sein, dass Morpheus Sie bereits in seinen Armen wiegt. Ich bin noch wach, wie Sie sehen, und ich werde heute Nacht vermutlich auch nur wenig schlafen, falls ich überhaupt einschlafen sollte. Das liegt einerseits an der Sommerhitze, andererseits an der Schnake, die ich nicht erwische und drittens an dem unbequemen Sofa, das nun mein Schlafplatz ist. Klara hat mich nämlich aus dem Ehebett verbannt.

Wir waren heute Abend gemeinsam essen. Sie schöpfen nun bestimmt Hoffnung, dass ich mir und Klara eine neue Chance geben möchte, doch Sie irren sich. Darum ging es nicht. Ich wollte nur eines: Klaras Aufmerksamkeit. Und zwar ihre ganze Aufmerksamkeit ohne störende Freundinnen, ohne den lästigen Yogakurs, den sie seit Kurzem wie vernarrt besucht und ohne ihre Diätpläne. Sie hat nämlich sonst nicht viel im Kopf. Naja, von ihrer Arbeit einmal abgesehen. Jedenfalls habe ich meine Frau in ein nobles Restaurant in Brixen ausgeführt und konnte tatsächlich einige klärende Worte mit ihr wechseln. Ich hatte mir natürlich erhofft, dass sie mit Verständnis oder wenigstens sachlich reagieren würde, doch dem war nicht so.

Ich sagte Klara, dass ich die Scheidung wolle. Klara sagte zunächst nichts, sie starrte mich einfach nur an. Dann fragte sie mich, ob ich spinne.

„Nein“, sagte ich, „ich spinne nicht. Ich möchte, dass wir uns scheiden lassen. Es ist aus“, sagte ich.

Klara nahm ihr Glas mit dem teuren Lagrein und spülte ihn in zwei kräftigen Schlucken herunter. Sie sprach nicht mit mir, sie aß einfach nur weiter, sie reagierte völlig mechanisch. Fast wie ein Computer, dessen Software nicht reagiert, weil die Festplatte überlastet ist. Ich wartete darauf, dass sie Fragen stellte. Wollte sie denn nicht einmal wissen, warum ich mich scheiden lassen wollte? Ich war ihr also tatsächlich egal, war meine Schlussfolgerung. Ich war erleichtert und enttäuscht und aß mein Steak zu Ende. Es war so zäh wie meine Ehe.

Als wir schweigend nach Hause kamen und ich mich neben meine Nochehefrau legen wollte, sagte sie nur, geh weg.

„Wohin?“ fragte ich sie überrascht.

„Das ist mir egal. Aber bleib nicht bei mir. Dein Platz ist nun nicht mehr bei mir. Schließlich willst du mich ja nicht mehr.“

Ich erhob mich und nahm meinen neuen Schlafplatz auf dem Sofa ein. Das Sofa vermittelt mir ein seltsames Gefühl: Freiheit. Die Freiheit, zu gehen. Die Freiheit, meine Frau Klara zu verlassen und zu Bianca zu gehen. Von der durchsichtigen Frau zu der weißen Frau. Ist ihnen eigentlich schon einmal der gehörige Unterschied zwischen Transparenz und Weiß aufgefallen?

 

23. Juli

Guten Abend.

Klara hat drei Tage und Nächte lang nicht mit mir gesprochen. Sie hat mich nicht einmal mehr angesehen. Gestern Abend hat sie mir in den paar Minuten, die wir miteinander in der Küche verbrachten, automatisch den Korkenzieher gereicht und mir die Gläser in die Hand gedrückt. Wortlos, aber immerhin eine gewohnte Geste, für die ich ihr dankbar war. Ich war ungeschickt und habe eines der Gläser auf den Küchenboden fallen lassen, es zersprang natürlich in tausend kleine Scherben. Ich wollte sie mit der bloßen Hand auflesen und schnitt mich. Klara beugte sich mit einem Tuch zu mir herunter und saugte das Blut von meinem rechten Zeigefinger. Plötzlich war da diese Wärme ihres Mundes an meinem Finger. Ich zuckte erst zusammen, nahm ihn aber nicht weg. Ich wünschte mir plötzlich, sie würde meine Fingerspitze nicht mehr loslassen. Der Moment war schnell vorbei, sie nahm ein Pflaster aus der Schublade und verband meinen Finger. Dann aßen wir wortlos. Später gingen wir schlafen, sie im Schlafzimmer, ich auf dem Sofa. Ich hätte das Pflaster längst abnehmen können, aber ich wollte nicht, obwohl es vom häufigen Händewaschen und den alltäglichen Berührungen mehr als hässlich geworden ist.

Als ich heute Abend nach Hause kam, war Klara nicht da. Ich suchte nach ihr, hatte schon den Verdacht, sie sei heimlich zu einer ihrer Freundinnen gezogen, doch ihre Sachen waren alle noch hier. Nur sie nicht. Die Wohnung war leer, warm, kalt. Ich setzte mich vor den Fernseher und schaute einen Krimi an. Ich wartete, ich konnte nicht schlafen. Ich wollte mich auf den Film konzentrieren, aber ich konzentrierte mich nur auf das schmutzige Pflaster an meinem rechten Zeigefinger. Gegen zwei Uhr nachts kam Klara dann nach Hause. Sie war bester Laune und stark betrunken. Ich brachte sie ins Bett, zog ihr die Schuhe aus und deckte sie zu. Sie sprach noch immer nicht mit mir, aber das war egal. Ich war einfach nur froh, dass sie wohlbehalten wieder nach Hause gekommen war.

Bianca habe ich seit einigen Tagen nicht mehr gesehen. Ich habe ihr auch nicht geschrieben, sie ist derzeit bei einem Kurs in Mailand, da will ich nicht stören. Ich habe auch keine Lust, sie jetzt mit meiner neuen, seltsamen Freiheit zu überrumpeln. Ich muss mich erstmal selbst mit ihr zurechtfinden. Es ist gar nicht so einfach, sie zu genießen, glauben Sie mir.

Ich muss ihnen etwas gestehen. Ich habe heute Abend zwar den Krimi im Fernsehen laufen lassen, ich habe ihn aber nicht im Geringsten verfolgt. Ich habe mir stattdessen das Fotoalbum unserer Hochzeit angesehen. Ein Album voller glücklicher Gesichter. Ich musste an den Priester denken, vor dem wir uns die ewige Liebe versprochen hatten. Aber Sie wissen ja, es ist eben so eine Sache mit der ewigen Liebe.

 

31. Juli

Guten Abend.

Nein, es ist kein guter Abend, für mich zumindest nicht. Ich war nach der Arbeit noch ein wenig im Zentrum. Mir war nach einem Eis und einem kleinen Spaziergang. Ich ging durch Brixens kleine Lauben, betrachtete die Auslagen in den Schaufenstern und aß ein Vanilleeis. Dann schlenderte ich über den Domplatz und suchte Schatten im Kreuzgang. Da sah ich sie: Klara. Sie war nicht allein, sie spazierte vor mir Hand in Hand mit einem Mann. Ich war außer mir vor Wut. Ich rannte zu den beiden und nahm Klara bei der Schulter, wirbelte sie zu mir herum, sie schrie. Dann sah ich in ihr Gesicht und erkannte, dass die Frau nicht Klara war. Ich entschuldigte mich tausendmal bei dem zu Tode erschrockenen Pärchen und suchte das Weite. Ich wusste nicht wohin mit meiner Scham und meiner Eifersucht, da rannte ich einfach in den Brixner Dom und suchte mir ein stilles Eckchen. Ich konnte mich nicht mehr zusammenreißen und weinte wie ein Schlosshund. Die Touristen sahen mich an wie einen Verrückten, ich wandte mich ab und suchte Schutz in einem der Beichtstühle. Der Pfarrer hatte es wohl bemerkt und wollte mir prompt die Beichte abnehmen. Er fragte, was ich zu beichten habe.

Ich schluchzte: „Dass ich meine Frau liebe.“

Er tröstete mich, in dem er sagte, dass Gott es mir nachsehen würde.

 

Wie ein geprügelter Hund ging ich nach Hause. Klara war wie immer noch nicht da. Wo sie nur wieder steckte? Auf meinem Handy fand ich fünfzehn unbeantwortete Anrufe von Bianca und einige wütende Nachrichten. Ich antwortete ihr, ohne nachzudenken, dass unsere Affäre mit dem heutigen Tage zu Ende sei. Sie hat mir nicht geantwortet.

Einige Stunden später kam Klara nach Hause. Als sich die Tür öffnete, sprang ich vom Sofa, rannte zu ihr und schloss sie in meine Arme. Sie war völlig verdattert und versuchte, sich loszumachen. Ich ließ sie nicht los, ich konnte gar nicht genug von ihrem verschwitzten Hals bekommen. Nicht dass sie denken, ich hätte sonst etwas mit ihr gemacht. Nein, ich habe sie einfach nur gehalten und konnte sie nicht mehr loslassen.

Klara begann endlich wieder, mit mir zu reden. Sie sprach so viel, von den letzten Monaten, von den letzten Jahren, in denen wir uns so weit voneinander entfernt hatten. Sie erzählte mir von ihrem Yogakurs. Ich fragte sie, ob ihr der Yogalehrer gefiele. Sie lachte schallend und konnte gar nicht aufhören. Als sie sich beruhigt hatte, erklärte sie mir, dass sie die Lehrerin sei. Es war mir furchtbar peinlich. Ich drückte sie erneut an mich und entschuldigte mich für meine Abwesenheit, die ich ihr lange Zeit angelastet hatte. Was war ich nur für ein Narr.

Ich wünsche all denen, die bei mir geblieben sind, alles Gute für Ihre Ehe. Ich habe übrigens gehört, dass laut einer Statistik im letzten Jahr sehr viel weniger Ehen in Südtirol getrennt oder geschieden wurden. Klara, Bianca und mich hat es nie gegeben, aber vielleicht können wir diese Statistik ja noch ein wenig aufrecht erhalten.