
Ein Mini-Krimi zum
Internationalen Tag der Frau
Teil Eins
Bille betrachtete sich im Spiegel. Ihre Haut hatte einen goldbraunen Schimmer angenommen, die kleinen Fältchen um ihre blauen Augen zeigten winzige letzte weiße Spuren. Seit zwei Monaten lebte sie nun hier am See, sie hatte sich so sehr danach gesehnt, das Plätschern der kleinen Wellen zu hören, ihr Glitzern in der Herbstsonne zu beobachten, bevor er im Winter zufrieren würde. Hier war sie nun, hatte ihr altes Leben mit der großen Last einfach hinter sich gelassen. Aus der verfolgten Sibylle war die freie Bille geworden. Sie wich von ihrem Spiegelbild ab, stieg die kleinen Stufen ihres Hausboots empor, legte sich an Deck und schloss die Augen. Leichter Wind kam auf, das Boot wog sie in halben Schlaf.
Zwei Jahre. Ein Mann hatte sie zu seiner Liebsten auserkoren, ohne jemals danach zu fragen, ob sie diese Liebe erwidere. Am Anfang war eigentlich alles halb so schlimm gewesen, sie hatte ihm sogar das Leben gerettet. Rettungseinsatz auf der Autobahn, er hatte seinen Wagen gegen einen Brückenpfeiler gefahren. Selbstmordversuch, Sekundenschlaf? Man wusste es nicht. Der Mann erlitt schwere Verletzungen, musste reanimiert werden, kam ins Krankenhaus, Gedächtnisverlust. Als er wieder aufwachte, war seine Vergangenheit ausgelöscht und er verliebte sich Hals über Kopf in seinen Schutzengel.
Nach mehreren Monaten durfte er das Krankenhaus wieder verlassen. Er verabschiedete sich bei Sibylle mit roten Rosen, sie freute sich und wünschte ihm alles Gute für die Zukunft. Auf seine Zuneigung war sie nicht eingegangen, hatte ihn aber stets mit Freundlichkeit bedacht. Eine Woche später wartete er nach Dienstschluss vor dem Krankenhaus auf sie und lud sie in ein Restaurant ein.
Nach dem Abendessen hatte er sie nach Hause begleitet, sie galant bis zur Haustür ihres Mehrfamilienhauses gebracht und sich dann verabschiedet. Sibylle hatte sich bedankt und kurz überlegt, ihm ein Küsschen zu geben, sich dann aber umgedreht. Nein, keine Affäre mit Patienten, auch keine mit ehemaligen Patienten. Er war eh nicht so ganz ihr Typ und sie verspürte keine Schmetterlinge im Bauch. Es war einfach nur ein netter Abend gewesen.
Zwei Wochen lang war nichts passiert. Sibylle hatte ihn eigentlich schon längst wieder vergessen, als sie in ihrem Briefkasten zwei Eintrittskarten ihrer Lieblingsband fand. „Nimmst du mich mit?“, stand auf einem Post-it, den er auf die Karten geklebt hatte. Wie war er an diese Tickets gekommen? Das Konzert war seit Monaten ausverkauft. Innerlich jubelte sie, wusste aber nicht so recht, wie sie sich dafür bedanken sollte. Seine Telefonnummer hatte sie nicht.
Teil Zwei
Kommissar Erich Spitzweg schritt langsam über den Holzsteg, der durch das Biotop am Seeufer führte. Die Luft war noch warm, die Herbstsonne erhitzte den See, es roch nach den ersten fallenden Blättern. Eine Ente flog auf, als Spitzweg stehen blieb. Irgendwo gluckste es, als ein Karpfen nach Luft schnappte. Die Touristin, die den Leichnam entdeckt hatte, stand mit blassem Gesicht an der Brüstung, die den Holzsteg umgab. Ihre Augen waren geweitet, sie zitterte und hielt sich den Bauch.
- Bringen Sie sie weg, bat Spitzweg seinen Kollegen., Bevor sie uns noch ins Wasser kippt oder den Tatort versaut.
Die Tauchereinheit hatte die Wasserleiche geborgen und bereits in den Aluminiumsarg gelegt. Erich Spitzweg hielt sich sein mit Lavendelöl getränktes Taschentuch vor Mund und Nase und betrachtete ihn eingehend. Auf den ersten Blick konnte er keine Schuss- oder Schnittwunden feststellen. Auch sein Hals war anscheinend unversehrt.
- Woran ist er gestorben?, fragte Spitzweg.
- Erst obduzieren, antwortete der Gerichtsmediziner.
- Seit wann ist er tot?
- Mindestens vierundzwanzig Stunden, er ist genauso kühl wie der See.
Eine Wasserleiche behielt viele Geheimnisse für sich, die meisten Beweise versanken in den glitzernden Wellen. Spitzweg blieb, nachdem die Kollegen von der Spurensicherung abgezogen waren. Er beschloss, den See einmal zur Gänze zu umrunden, vielleicht hatte das stille Wasser ja etwas an Land geschwemmt.
Die Sonne wurde schwächer, als Spitzweg das Biotop verließ und die breite, befahrbare Uferstrecke zwischen den Apfelbäumen betrat. Der Herbstduft mischte sich mit dem der gefallenen Äpfel. Spitzweg hob einen auf und biss hinein. Pink lady, dachte er, und sah einer jungen Frau nach, die in einem strahlend rosafarbenen Kleidchen noch einen Abendspaziergang machte. Die junge Frau drehte sich zu ihm um, nickte freundlich und erstach ihn fast mit ihren blauen Augen.
Teil Drei
Sibylle hatte nach dem Fund der Konzerttickets notgedrungen beschlossen, einfach nichts zu tun. Was hätte sie auch machen sollen? Sie kannte nur seinen Namen, die Datei der ehemaligen Patienten durfte sie ohne die Zustimmung ihrer Vorgesetzten nicht öffnen. Sie ließ die Tage bis zum Konzert vergehen und ging davon aus, es alleine zu besuchen. Als sie an besagtem Abend vor die Haustür trat, war niemand da. Sie sah sich nach einem Auto um, fand aber keines. Sie machte sich auf den Weg zum Busbahnhof, auch hier konnte sie ihren Gönner nirgendwo entdecken.
Sie genoss die Musik und die Stimmung, das Konzert war ausverkauft, ein voller Erfolg. Wie sehr hatte sie die Lieder dieser Gruppe vermisst, wie sehr die raue Stimme des Frontsängers, der in seinen Liedern die Liebe verteufelte. Dann kam es, das langsame Stück, Sibylle schloss die Augen, ihr Herz schlug im Takt mit, sie sang leise, wiegte ihre Hüften, bemerkte nicht einmal die Hände, die sich um ihr Becken legten. Sie tanzte, fühlte nichts in ihrem Rausch, bis eine sanfte Stimme in ihrem Ohr sie zusammenzucken ließ.
- Du hast mich nicht mitgenommen.
Sibylle schrie auf vor Schreck, drehte sich brüsk um und starrte in das Gesicht ihres ehemaligen Patienten.
- Ich…, versuchte sie, sich zu erklären.
- Du bist undankbar, Sibylle.
- Aber… ich habe dich gesucht…, stammelte sie.
- Sieh dich um. Und sieh dich vor.
Mit diesen Worten verschwand er in der Menschenmenge. Sibylle blieb wortlos und mit pochendem Herzen zurück. Undankbar? Sie verspürte das dringende Bedürfnis, ihm hinterher zu rennen und ihm die Meinung zu sagen. Dann kam die Unsicherheit, gefolgt von der ersten Angst. Diese letzten zwei Sätze: Sieh dich um und sieh dich vor.
Mulmig begab sie sich auf den Heimweg. Als sie vor ihrer Haustür stand, konnte sie ihren Schlüssel nicht sofort finden und bemerkte, dass die Tür nur angelehnt war. Sie hatte doch abgeschlossen, da war sie sich sicher.
Teil Vier
„Hauptkommissar Erich Spitzweg“, sagte er laut und betrat den Holzsteg, der im See endete. Die junge Dame in pink saß dort, die Füße baumelten in den glitzernden Abendwellen.
„So so“, sagte sie, „Der Spitzweg-Erich. Was kann ich für Sie tun, Herr Hauptkommissar?“
Spitzweg schmunzelte, wie oft hatte er diesen Witz schon über sich ergehen lassen? Aus ihrem Mund jedoch klang er süßer und weniger bitter als das Kraut, das denselben Namen trug.
„Man hat hier im Biotop einen Toten gefunden. Da Sie ja hier weilen, wollte ich fragen, ob Sie vielleicht etwas beobachtet haben, Frau…?“
„Bille“, antwortete sie und streckte ihm die Hand entgegen. Als Spitzweg sie zum Gruße annahm, ließ sie ihn nicht los, sondern hielt sich an ihm fest, um aufzustehen. Mit einem Mal hatte sich der Abstand zwischen ihnen auf wenige Zentimeter reduziert. Er roch ihren Apfelatem. Pink Lady.
„Kommen Sie mit. Ich habe Hunger. Beim Essen erzähle ich Ihnen, was ich hier so tagtäglich beobachte.“
Spitzweg nahm ihre Einladung verblüfft an. Bei einem Glas Weißwein, gegrilltem Seebarschfilet und bunt gemischtem Gartensalat verliebte er sich in Bille.
„Ich beginne gerade ein neues Leben, Herr Spitzweg-Erich“, raunte sie, als sie sich von ihrem Gast verabschiedete. „Verraten Sie niemandem, dass ich hier bin. Auch Ihrer Leiche nicht.“
Weinseelig verabschiedete Spitzweg sich von ihr und träumte in dieser Nacht von seeblauen Augen.
Bille legte sich an Deck und sah hinauf in den herbstlichen Sternenhimmel. Eine verspätete Sternschnuppe huschte vorbei, dann noch eine. Sie dachte an jene Nacht nach dem Konzert, als sie ihre unverschlossene Haustür vorfand. Beunruhigt war sie eingetreten, hatte damit gerechnet, dass man ihr auflauerte. Von den räuberischen Banden hatte sie gehört, sie befürchtete, ausgeraubt worden zu sein. Doch nichts dergleichen war geschehen, alles war an seinem Platz, auch das wenige Bargeld in ihrer Schublade fehlte nicht. Sie schloss die Haustür mehrmals ab, legte sich ins Bett und fand doch keinen Schlaf. Mehrere Wochen vergingen, der Patient meldete sich nicht mehr. Bille beruhigte sich und vergaß ihn. Fast.
Teil Fünf
„Kanntest du diesen Mann?“, fragte Spitzweg und legte Bille ein Foto der Leiche zu Lebzeiten vor. Er war der Polizei nicht unbekannt: man hatte ihn wegen Nötigung angezeigt. Bille nickte.
„Ja“, sagte sie. „Aus der Hölle.“
Bille erklärte sich, während das Hausboot auf den See hinausschaukelte. Sie sprach von dem schlimmen Autounfall, von dem Konzert, von seinen Avancen, von der offenen Wohnungstür. Erzählte ihm, wie er erst untergetaucht war und dann eines Abends inmitten von hundert roten Rosen in ihrer Wohnung saß und mit einem Ring um ihre Hand anhielt. Wie sie es schaffte, zu flüchten. Wie sie umzog, sich nicht mehr zur Arbeit traute und ihren Job verlor. Wie sie sich von ihren Freunden entfernte, bis sie nicht mehr nachfragten. Wie sie vereinsamt in eine andere Stadt zog und eines Tages eine Grußkarte von ihrem „Lieblingspatienten“ bekam.
Erich Spitzweg hörte ihr einfach nur zu. Er wusste, dass bald ein Geständnis folgen würde. Wind kam auf, am Horizont ballten sich dunkle Wolken zu einem heftigen Sommergewitter zusammen.
„Eines Tages besuchte ich meine Eltern. Als ich vom Spaziergang zurückkam, sagte meine Mutter, dass ein Freund von mir da sei. Da saß er dann, im Wohnzimmer, und prostete meinem Vater zu. Was für ein netter junger Mann, sagte meine Mutter, und bereitete das Abendessen zu. Ich hatte ihnen nichts von meinem Stalker gesagt, da ich sie nicht beunruhigen wollte.“
Die ersten dicken Tropfen klatschten auf Spitzwegs Kopf, sie stiegen unter Deck. Der Regen schlug gegen die Bootwände, der Wind schob es auf die Seemitte hinaus. Ein Blitz schlug irgendwo ein, es krachte, Bille erschrak und suchte Halt an dem Hauptkommissar. Spitzweg hielt sie, dann küsste er sie zum ersten Mal.
„Sprich nicht weiter, Bille. Ich werde morgen früh von Bord gehen. Und du wirst dir ein neues Gewässer suchen müssen.“
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